Musizieren, Marschieren, Sterben

Vom 11. bis 13. November 2016 veranstaltete die Jugendbildungsstätte Ludwigstein - unterstützt von der »Bundeszentrale für politische Bildung« und »Hessen aktiv - für Demokratie und gegen Extremismus« das Seminar "Musizieren, Marschieren, Sterben: Musik- und Liedproduktion in der Hitlerjugend am Beispiel des Lieddichters Hans Baumann und des Musikfunktionärs Wolfgang Stumme". Ich war eingeladen worden, um am Beispiel eines Jugendbundes ("Freibund") und dessen Bundesliedes über das Problem eines "unreflektierten Traditionalismus" zu sprechen.
 
Mein Zugang zum Thema
 

musizieren_marschieren__sterben_Seite_2Ich bin nie ein „Bündischer“ gewesen, aber ich war früh politisch interessiert. Als Jugendlicher engagierte ich mich ganz weit „rechts“. So kam ich mit 15 Jahren mit einem rechtsradikalen Jugendbund in Kontakt – und nahm an einem der Zeltlager teil. Was ich dort erlebte, stieß mich ab. 20 Jahre später begegnete ich dem Jugendbund erneut – und war erstaunt.

Der Jugendbund hatte sich nicht nur einen neuen Namen gegeben, sondern sich auch sonst verändert: die Bundesfahne zeigte nicht mehr eine Rune, sondern eine aufgehende Sonne, und die Mitglieder trugen jetzt „Kluft“. Nur das Bundeslied war noch dasselbe, allerdings um eine Strophe gekürzt. Mich beeindruckte die Offenheit, die die Mitglieder ausstrahlten. Die noch vorhandenen Widersprüche nahm ich nicht wahr. Rund 25 Jahre sind seit dieser ersten Wiederbegegnung vergangen. 

Bei dem „Bundeslied“ handelte es sich um das Lied „Nur der Freiheit gehört unser Leben“. Ich hielt es damals für eines der frühen Lieder aus der Jugendbewegung bzw. bündischen Jugend. Tatsächlich ist das Lied aber erst 1934 von Hans Baumann verfasst worden. Baumann kam aus der katholischen Jugendbewegung und war im sogenannten „Dritten Reich“ einer der bekanntesten HJ-Poeten. Das Lied „Nur der Freiheit“ war zum festen Bestandteil nationalsozialistischer Feiergestaltung geworden. Wie passte dieses Lied mit der vom Jugendbund beabsichtigten Erneuerung zusammen?

In dem Jugendbund, dessen demokratischer Charakter nicht in Frage steht, wurde in den vergangenen Jahren – erstmals vor rund 15 Jahren – wiederholt an dem Bundeslied Kritik geübt. Doch bisher verläuft jede Kritik im Sande. Warum fällt es dem Jugendbund, der einmal die Kraft zur „Selbsterneuerung“ besaß, heute so schwer, die Versäumnisse der Vergangenheit zu korrigieren? Auf der Suche  nach einer Erklärung habe ich vor längerer Zeit zwei Aufsätze zu dem Thema verfasst. Der erste Aufsatz erschien Ende 2014 in der Wochenzeitung Junge Freiheit, der zweite Anfang 2015 in dem Online-Magazin Globkult.

Ein Lied als Erkennungsmelodie

Der Jugendbund blickt auf eine mehr als 60-jährige Geschichte zurück. Er war in der jungen Bundesrepublik von Personen gegründet worden, die dem NS-Regime und dessen Ideologie nachtrauerten. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass das Bundeslied dieses Jugendbundes dem Arsenal nationalsozialistischer Feier- und Bekenntnislieder entstammt. Nach 1945 wurde das Lied zur „Erkennungsmelodie“ einer politischen Szene, die sich auf beschönigende Weise mit der Geschichte des sogenannten „Dritten Reiches“ verbunden fühlte. Zu den Organisationen, die die identitätsstiftende Funktion des Liedes nutzten, gehörte u.a. die inzwischen verbotene Wiking-Jugend. Aber auch die in den 1950er Jahren gegründete Partei „Deutsche Gemeinschaft“, aus der dann die „Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher“ (AUD) entstand, hatte das Lied eine Zeitlang als „Parteihymne“ verwendet. Damit wollte man um die ehemaligen Mitglieder der verbotenen „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) werben. Der Gründer und Vorsitzende der „Deutschen Gemeinschaft“, August Haußleiter, gehörte später zu den Gründern der Partei DIE GRÜNEN und war kurzzeitig deren Vorstandssprecher.

Das Lied wird noch heute im österreichischen „Ring Freiheitlicher Jugend“ (RFJ), der Jugendorganisation der FPÖ, gesungen. Als vor einigen Jahren deren Bundesvorsitzender, der heutige FPÖ-Politiker und Vizebürgermeister von Wien, Johann Gudenus, auf die Geschichte des Liedes angesprochen wurde, behauptete er, nichts davon zu wissen. Er singe das Lied nur, weil es darin um die Freiheit ginge. Wörtlich sagte er: „Wann das früher gesungen wurde, das mag sein. Der Text ist in unserem Sinne, und wir singen das gerne.“

Johann Gudenus und viele andere beklagen ein Geschichtsbild, in dem der NS-Zeit zu viel Raum gegeben werde. Umso erstaunlicher ist es, wie wichtig ihnen die Propaganda-Lieder dieser Zeit sind – und wie gerne sie die Lieder singen.

Traditionsverständnis – und allerlei Widersprüche

Die Verantwortlichen des Jugendbundes wollten mit den Resten des politischen NS-Erbes brechen – und suchten nach anderen historischen Anknüpfungen. Die Verortung in der deutschen Jugendbewegung und der bündischen Jugend ging einher mit der Entdeckung der „linken Leute von rechts“ in der Weimarer Zeit.

Traditionsanknüpfungen können aus unterschiedlichen Motiven erfolgen und mit ganz verschiedenen Inhalten gefüllt werden. Das gilt auch für die Bezugnahme auf die „linken Leute von rechts“ der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Etliche von ihnen gehörten später dem Widerstand gegen das NS-Regime an. Das ändert nichts daran, dass uns manche ihrer Aussagen heute mindestens problematisch erscheinen müssen. Gerade deshalb ist die Geschichte der „linken Leute von rechts“ so lehrreich. Wer sich mit ihr befasst, wird feststellen, wie fragil weltanschauliche Zuschreibungen oft sind. Das kann die Bereitschaft erhöhen, die eigene Position in Frage zu stellen.

Der Jugendbund hat sich vor mehr als 25 Jahren den Fragen zur eigenen Vergangenheit gestellt – und Konsequenzen gezogen. Auch deshalb schienen mir die Mitglieder, die ich damals kennenlernte, aufgeklärter zu sein als viele Kritiker des Jugendbundes. Umso mehr muss es erstaunen, dass die „Aufräumarbeiten“ vor dem Bundeslied Halt machten. Damals hatte man dessen politische Bedeutung nicht erkannt. Aber das ist lange her. Inzwischen kennen die Verantwortlichen die Problematik – und handeln nicht.

Der Jugendbund erhebt für sich den Anspruch, seinen Mitgliedern ein differenziertes Geschichtsverständnis zu vermitteln – und scheitert damit schon am eigenen Liedgut. Das Versagen hat mehrere Gründe: die Harmlosigkeit des Liedtextes, die Persönlichkeit des Dichters, und der missverständliche Umgang der deutschen Gesellschaft mit der eigenen Geschichte spielen dabei eine Rolle. Auch mehr als 70 Jahre nach dem Kriegsende fällt uns ein differenzierter Blick auf das NS-System und dessen – vor allem jugendliche – Anhänger noch immer schwer. Das ist angesichts der monströsen Verbrechen verständlich. Wer diese Scheu vor Differenzierung nur noch als bloße „Vereinfachung“ wahrnimmt, wird auch jede Auseinandersetzung mit Hans Baumann und dessen Liedgut missverstehen. Wer anderen „Vereinfachung“ vorwirft, wird leicht selbst zum „Vereinfacher“.

Der Umgang mit Hans Baumann bestätigt das. Für die einen war er ein politischer Verführer, für die anderen ein Verführter. Aber war er in Wirklichkeit nicht beides? Ist Hans Baumann also ein Beispiel für die tragische Verstrickung vieler Deutscher in der NS-Zeit?

Der Jugendbund, von dem hier die Rede ist, will den Dichter Hans Baumann verteidigen – und beschädigt ihn stattdessen zusätzlich. Wer am Falschen festhält, gibt am Ende nicht nur seinen Kritikern recht. Viel schlimmer ist der Schaden, den man sich selbst zufügt. Damit meine ich die Signalwirkung nach innen – also gegenüber den Jugendlichen, die Mitglied des Jugendbundes sind. Welche Botschaft kommt bei ihnen an, wenn sie ihr „Bundeslied“ singen – und dessen Geschichte kennen? Ist in dem Geschichtsbild, das damit transportiert wird, für die Opfer des Nationalsozialismus noch Platz? Ein solcher Umgang mit der eigenen Geschichte lässt auf ein unreflektiertes Traditionsverständnis schließen – und die notwendige Fürsorge gegenüber den Jüngeren vermissen. Ist das vielleicht einer der Gründe, warum dieser Jugendbund nicht zur Ruhe kommt?

Von dem Verleger Helmut König wissen wir, dass Hans Baumann nach 1945 zunächst keines seiner Lieder mehr zur Veröffentlichung freigeben wollte. Am Ende stellte er dann doch eine Auswahl von Liedern zusammen, die weiter gedruckt werden durften. Das Lied „Nur der Freiheit“ gehörte nicht dazu. Angesichts der Bedeutung des Liedes im Nationalsozialismus war das naheliegend. Umso empörender ist es, wenn man sich heute darüber hinwegsetzt – und sich dabei ausgerechnet auf Hans Baumann beruft.

Die Widersprüche, die mit der Person Hans Baumann, dessen Liedgut und dem Umgang mit seinem künstlerischen Erbe verbunden sind, fügen sich ein in die zahlreichen anderen Widersprüche innerhalb der deutschen Jugendbewegung bzw. bündischen Jugend. Kleiner oder unbedeutender werden sie dadurch nicht.

Die Jugendbewegung

Die Jugendbewegung vor und nach dem I. Weltkrieg war inspiriert von Hölderlin, Nietzsche, Rilke, Stefan George, aber auch von Männern wie dem britischen Militaristen Robert Baden-Powell, dem Schriftsteller Ernst Jünger, dem Nationalrevolutionär Ernst Niekisch, dem aus Schottland nach Berlin übergesiedelten Anarchisten John Mackay, dem Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy und dem nicht-marxistischen Sozialisten Leonard Nelson (1882 – 1927). Nelson hatte in der Weimarer Republik den „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“ (ISK) gegründet, dessen Mitglieder nach 1933 Widerstand gegen den das NS-Regime leisteten. Der ISK und Nelson beriefen sich auf Jakob Friedrich Fries (1773 – 1843). Nelson hatte noch vor dem I. Weltkrieg eine „Jakob-Friedrich-Fries-Gesellschaft“ gegründet. Wer war dieser Fries?

Jakob Friedrich Fries war ein Liberaler, der gegen den politischen „Romantizismus“ kämpfte. Er hatte 1807 die Schrift über „Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft“ verfasst und gilt als ein Vordenker des Rechtsprinzips der Menschenwürde. Aber Fries war auch Antisemit. Er bezeichnete Juden als „Gewürm“ und forderte, sie durch Zeichen auf der Kleidung in der Öffentlichkeit zu kennzeichnen. Am Ende sprach Fries sogar von „Ausrottung“. War Fries also ein früher Stichwortgeber des Holocaust? Der Philosoph Lutz Geldsetzer sieht in Jakob Friedrich Fries und dessen „Lehre von der Würde des Menschen ein Menetekel dafür, wie schnell und leichtfertig höchste Humanität bei den Prinzipien in inhumane Folgerungen und Anwendungen umschlagen kann“.

Als Liberaler war Fries auch Inspirator der „Schwarzen“ in der Gießener Burschenschaft um Karl Follen (1796 – 1840), dem Dichter des „Großen Liedes“ („Fürsten zum Land hinaus, /jetzt geht’s zum Völkerschmaus./ Hep, Hep, Hep.“). Follen musste aufgrund der Karlsbader Beschlüsse fliehen – und emigrierte 1824 in die USA. Dort wurde er zum Vorkämpfer der Anti-Sklaverei-Bewegung. Wieviel „Fries“ steckte in Karl Follen – oder Leonard Nelson? Und wie passt das alles zusammen?

Die Widersprüche verweisen auf die Wurzeln in der deutschen Romantik und im deutschen Idealismus. Das im Gedenken an die Reformation von der Jenaer Burschenschaft als „demokratischer“ Protest gegen das „System Metternich“ inszenierte  Wartburgfest 1817 (damals fand die erste Bücherverbrennung sogenannter „undeutscher Schriften“ statt) inspirierte die anti-wilhelminische Jugend des „Wandervogel“ mit zu ihrem festlichen Treiben auf dem Hohen Meißner anno 1913 – auch wenn das Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und das Gedenken der „deutschen Erhebung“ gegen Napoleon im Vordergrund stand. Pathetische Reden und lebensreformerisches Tanzen („Ausdruckstanz“ sowie „Volkstanz“), geboren aus spätidealistischem Geist und romantischer Liebe zur Natur prägten das Treffen.

Hans Baumann und die bündische Jugend

Die Biographie des jugendbewegten Poeten, NS-Dichters und – in der Bundesrepublik – erfolgreichen  Jugendbuchautors Hans Baumann ist nicht nur „umstritten“, sondern heute weitgehend vergessen. Die Fragen, die mit Hans Baumann verbunden sind (die Geschichte der Bündischen Jugend, ihre Verfehlungen, ihre Tragik) liegen im ungeraden Verlauf der Geschichte selbst. Exemplarisch dafür ist der Lebenslauf von Hans Baumann. Wegen der Karriere unter dem NS-Regime und der späteren Kehrtwende wird er als Opportunist abgetan. Wie war es möglich, dass dieser junge Mann aus Amberg in der Oberpfalz, der als Mitglied des katholischen Jugendbundes „Neudeutschland“ 1932 – während einer Wallfahrt – das Lied „Es zittern die morschen Knochen“ verfasste (1933 von einem Jesuitenpater in Druck gegeben), zum preisgekrönten Dichter (Dietrich-Eckart-Preis 1941) des sogenannten „Dritten Reichs“ aufsteigen konnte?

Der katholische Junglehrer Baumann trat im April 1933  der NSDAP bei. Nicht aus Opportunismus, sondern aus national-patriotischen Motiven – wie sie bspw. im Bund „Neudeutschland“ gepflegt wurden. Hans Baumann wollte sich dem sogenannten “nationalen Aufbruch“ nicht verschließen. Es erging ihm wie Martin Heidegger oder dem jungen Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der als Schüler im Bund der „Neupfadfinder“ und als ein Jünger Stefan Georges („Das Neue Reich“ gewidmet dem Stauffenberg-Bruder Berthold) sich in Bamberg in die marschierenden SA-Kolonnen eingereiht hatte. „Aufbruch“ hieß übrigens auch die Zeitschrift, die von Beppo Römer, einem ehemaligen Freikorpsführer („Oberland“) und späteren „Nationalkommunisten“, im Auftrag der KPD herausgegeben wurde. Er wurde am 25. September 1944 von den Nazis hingerichtet.

Gehörte Hans Baumann bis 1933 noch zu den guten Protagonisten der katholischen Bündischen Jugend, ab April 1933 aber zu den bösen Abtrünnigen?

In Kreisen der „Bündischen“ von heute  weiß man: Der weitere Lebensweg des Hans Baumann als einem gläubigen Diener des NS-Regimes war ein grundsätzlich anderer als der eines Willi Graf, der nach dem Verbot des Bundes „Neudeutschland“ über den „Grauen Orden“ in den Freundeskreis der Geschwister Scholl gelangte und als Mitglied der „Weißen Rose“ 1943 vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler (Freisler war 23 Jahre vorher noch Kommunist gewesen) zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Von dem Saarländer Willi Graf, dessen Vater sich 1935 für die „Rückkehr der Saar“ an das „Reich“ engagierte, sind patriotische Bekenntnisse zu seinem „deutschen Vaterland“ überliefert.

Die Zeit vor und nach 1933

Es geht um die Traditionspflege in der heutigen Jugendbewegung – bei den  Nachfahren der einst so stolzen Jugendbewegung, breit gefächert von den „Artamanen“ und anderen nationalistischen Bünden über den von Artur Mahraun gegründeten „Jungdeutschen Orden“, die legendäre „dj.1.11“ bis hin zu den linken sozialistischen Gruppen. Die Heutigen sehen sich ausnahmslos in der Tradition der „Guten“, der späteren Widerständler und Märtyrer gegen das braune Verbrechensregime. Die „Bösen“, das sind die als „völkisch“ oder „nationalistisch“ identifizierten Gruppen, von denen die meisten auch antijüdisch ausgerichtet waren. Dennoch erscheint mir dieses Bild zu einfach. Denn NS-Täter und Widerstandskämpfer kamen oft aus denselben Gruppen.

Handelt es sich also eher um einen Mythos? Und kann man die Befindlichkeit der deutschen Jugend vor 1933 auch nur ansatzweise verstehen, wenn man die durch Versailles, Weimar und die Weltwirtschaftskrise aufgewühlte politische Situation in Deutschland ausblendet?

„Bündische“ und „Nationalrevolutionäre“ gegen das NS-Regime

Dazu ein paar Passagen aus der Biographie, die Hans Coppi zu Harro Schulze-Boysen, dem Mitglied der „Roten Kapelle“ verfasst hat („Harro Schulze-Boysen – Wege in den Widerstand“, Fölbach 2. Aufl. 1995): „Zwei Wochen nach dem 30. Januar 1933, am 15. Februar 1933 schrieb Schulze-Boysen in seiner Zeitschrift „Gegner“ einen  Artikel mit dem Titel „Die Machtergreifung“. Darin stellte der Nationalrevolutionär Harro Schulze-Boysen, der mit den Pariser „Nonkonformisten“ befreundet war, die aus seiner Sicht wichtigsten  „Forderungen“ an das neue Regime auf. Jetzt gelte es:

  • das Programm der NSDAP umzusetzen,
  • das Schanddiktat von Versailles umzustoßen,
  • die Börse zu schließen,
  • die antikapitalistische Sehnsucht unseres Volkes zu verwirklichen und
  • Deutschland in die Epoche des Sozialismus hineinzuführen (S.117).

„Antikapitalistische Sehnsucht“ – das war auch ein Schlagwort des am 30. Juni 1934 im Rahmen der „Röhm-Affäre“ ermordeten NS-Führers Gregor Strasser! Aus der Biographie Coppis geht nicht hervor, wann genau sich  Schulze-Boysen an das Braune Haus in München wandte, um dort mit der HJ-Führung seine Vorstellungen zu diskutieren. Jedenfalls fuhr er nach München. Seine Freundin Regine Schütt mutmaßt über eine denkbare Übernahme der Stelle eines Reichsjugendführers in der HJ: „Er hätte sie bestimmt genommen, weil er gedacht hätte, er könnte daraus etwas machen.“ (zit. S.123) Am 26. April 1933 wurde Schulze-Boysen von SS-Leuten verhaftet und auf entsetzliche Weise misshandelt, am 1. Mai dank Intervention seiner Mutter entlassen. Wie die meisten hier Versammelten wahrscheinlich wissen: Sein Freund Harry Erlander, der jüdischer Abstammung war, wurde am 30. April zu Tode geprügelt. Einen Monat zuvor hatte Schulze-Boysen noch – in typisch jugendbewegter Diktion  an die „ehrlichen Nazis“ gewandt – folgendes geschrieben: „Der eigentlich Feind ist der deutsche Spießer, überall nistet er sich ein und nirgends füllt er die Gefängnisse. Ihn  rottet aus, in Gottes Namen“ (zit.121).

In dem Buch der Amerikanerin Anne Nelson („Die Rote Kapelle“ – Die Geschichte der legendären Widerstandsgruppe“, München 2010) finden wir kein Wort über den radikalen Nationalrevolutionär Harro Schulze-Boysen, den Großneffen des Großadmirals Tirpitz, der wiederum mütterlicherseits ein Großneffe des Gemeinschaftstheoretikers Ferdinand Tönnies war, dem Großvater der heutigen Juristin und Soziologin Sibylle Tönnies. Stattdessen finden wir in dem Buch von Anne Nelson nur liebevoll beschriebene Episoden über Harros Antinazismus und den Austritt seiner Frau Libertas aus der NSDAP. Immerhin erwähnt die Autorin, dass Harro im Juli 1936 bei seiner Trauung mit der lebensfroh jugendbewegten Libertas Haas-Heye in der Kapelle von Gut Liebenberg (ganz in der Nähe von Hermann Görings „Karinhall“) das ursprünglich vorgesehene Lied streichen ließ. Es handelte sich um das frühpietistische Lied „Jesu geh voran“ des Grafen Zinzendorf (Coppi, S.159). Harro Schulze-Boysen entschied sich stattdessen für das „kämpferisch-protestantische“ Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“. Durch seine Frau Libertas lernte Harro Schulze-Boysen Hermann Göring kennen, der ihm die Tür zur Luftwaffe öffnete.

In der Nachkriegszeit wollten sich die wiedererstandenen Bünde (wie bspw. „Deutsche Jungenschaft“, „Deutsche Pfadfinder“ und „Wandervogel – Deutscher Bund“) auf die unbefleckten Traditionen der deutschen Jugendbewegung besinnen. Zu deren frühen Mitgliedern gehörten u.a. Urs Müller-Plantenberg, Ekkehart Krippendorff und Tilman Fichter (der spätere Leiter der SPD-Parteischule in Bonn). Doch die Selbstdefinition von „links“ und „progressiv“ enthielt mancherlei Simplifizierung.

Geschwister Scholl

Wie reich die Geschichte der bündischen Jugend an Irrungen und Wirrungen ist, zeigt auch das Beispiel der Geschwister Scholl. Es ist bekannt, dass Sophie Scholl zur Konfirmation in BdM-Kostüm erschien. Aus einem Aufsatz von Eckard Holler ist zu entnehmen, dass Ernst Reden, der Freund Inge Scholls, als Protagonist der noch halblegalen „dj.1.11“ in Ulm ein Theaterstück verfasste unter dem Titel „Ein Volk steht auf“. Ernst Reden wurde, wie später auch Hans Scholl und andere, wegen „bündischer Umtriebe“ – gemeint waren vor allem homosexuelle Handlungen – verhaftet und verurteilt. Hans Scholls widerständische Karriere beginnt durch seine Kontakte zu Richard Scheringer (der zum Kommunismus konvertiert war), dessen  Prozess vor dem Reichsgericht – wegen nationalsozialistischer Betätigung in der Reichswehr – Adolf Hitler 1932 Gelegenheit gab, als Zeuge vor dem Gericht den sogenannten Legalitätseid abzulegen und sich als geläuterter, nunmehr Recht und Gesetz achtender Parteiführer zu inszenieren. In München gelangten Hans und Sophie Scholl und einige ihrer Freude in den christlich-konservativ geprägten Widerstandskreis der Zeitschrift Hochland um Carl Muth, Theodor Haecker und Werner Bergengrün – der letztere, heute kaum noch gelesen, als deutsch-baltischer Landwehrmann im Kampf gegen die „Bolschewiken“, als Protagonist der Konservativen Revolution sowie als zum Katholizismus konvertierter Vertreter der „inneren Emigration“ gleich dreifach suspekt.

Homosexualität und Pädophilie

Was die „bündischen Umtriebe“ betrifft, so mögen sich die heutigen Jugendbewegten in einer respektablen, emanzipativen, „linken“ Tradition sehen und  die Jugendbewegten von damals als die Avantgarde heutiger Sex- und Gender-Politik deklarieren. Die historische Wirklichkeit ist – wie immer – komplexer. Die Aufregung über die Vorgänge in der aus Lebensreform und Jugendbewegung hervorgegangenen Odenwald-Schule hat die problematischen Traditionslinien für kurze Zeit hervortreten lassen.

Homosexuelle Praktiken gehörten von Anfang zum jugendbewegten Avantgardismus – und sind eng mit der männerbündlerischen Erotik der späteren Freikorps verbunden. Als Beispiel ist der Freikorpsführer Gerhard Roßbach zu nennen, der nach Verbot und Auflösung seiner Truppe mit seiner Spielschar durch die Lande zog. Der als Märtyrer der Bündischen Jugend geehrte Nerother Wandervogel Robert Oelbermann geriet wegen seiner Neigung in die Fänge des NS-Regimes und starb im KZ. Auch Hans Blüher, in dessen Schriften der homoerotische Männerbund verklärt wurden, nahmen Einfluss auf den „Wandervogel“ und die „Bündischen“. Als Harro Schulze-Boysen um 1930 mit  bündischen Freunden auf den von dem früheren Pazifisten und Sozialisten Otto Abetz (der inzwischen der NSDAP nahestand)  auf den Treffen am Sohlberg im Schwarzwald die Versöhnung mit den erwähnten französischen Intellektuellen (unter ihnen etliche Juden) unter dem Motto: „ni droite – ni gauche“ („weder rechts noch links“) anstrebte, missfielen den Franzosen die von einigen Deutschen gepflegten schwulen Liebeleien. Über die Verführungsversuche des  im „Grauen Korps“ und im bündischen Umfeld einflussreichen Alfred Schmid, in dessen Haus in Berlin-Lichterfelde ein Bild mit dem „Heiligen Sebastian“ hing (der Ikone der Schwulen), berichtet voll Ironie Nicolaus Sombart in seinen Jugenderinnerungen („Jugend in Berlin, 1933-1943. Ein Bericht, erw. Aufl. Frankfurt 1991). In diesem Zusammenhang sei noch in Erinnerung gebracht, dass während der Weimarer Republik die in SPD und KPD organisierten antifaschistischen Linken nicht selten gegen die  „Sturmabteilung 175“ polemisierten, wenn sie die Nazis meinten.

Zwischen KPD und NSDAP

In allen Aspekten – der Herkunft aus der Neoromantik, aus völkisch-nationalen und sozialistischen Ideen schöpfend, in ihrem antibürgerlichem Gestus, in ihrem Jugendkult – trägt die Geschichte der deutschen Jugendbewegung ambivalente Züge. In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich, auf die legendäre „dj.1.11“ und ihren Führer Eberhard Koebel, genannt „tusk“ („der Deutsche“) hinzuweisen. Wegen seines Lebensweges – von der Hinwendung zur KPD über die Nazi-Verfolgung, die Emigration bis zum Ausschluss aus der SED 1951 – gehören Eberhard Koebel, seine Jungenschaftsjacke und die „dj.1.11“ zu den wichtigen Identifikationsbildern der „Bündischen“. Eine „Demaskierung“ des noch weithin verehrten „tusk“ liegt mir fern.

Es geht nicht darum, Koebel wegen seines Changierens zwischen Kommunisten und NSDAP, seines Versuchs, nach der „nationalen Revolution“ in den Jahren 1933/34 eine Führungsposition zu gewinnen („sich anzubiedern“), moralisch zu veurteilen. Festzuhalten ist jedoch, dass der ideologisch vielseitige Koebel, nicht anders als all die anderen Jugendbewegten von damals, von nationalen, ja nationalistischen Sentiments beseelt war. Viele der von „tusk“ und den von anderen Jugendführern mobilisierten jungen Menschen gingen nicht in den Widerstand, sondern zunächst mit jugendlichem Enthusiasmus in die „Hitlerjugend“, in die SA, in die SS und zogen dann, ein paar Jahre danach, in den Krieg. Wie viele von ihnen waren später an den NS-Verbrechen beteiligt?

Ich erinnere an die Lebensgeschichte des mit Nicolaus Sombart eng befreundeten, bündisch geprägten  Hajo Graf von Einsiedel, Urenkel Otto von Bismarcks und bei Stalingrad abgeschossener Jagdflieger. Er wurde nach sowjetischer Antifa-Schulung Vizepräsident des „Nationalkomitees Freies Deutschland“. Im vereinten Deutschland war Einsiedel von 1994 bis 1998 Bundestagsabgeordneter der PDS, der heutigen Linkspartei – und Zielscheibe „antideutscher“ Polemik. Einer der sogenannten „Antideutschen“ war Jürgen Elsässer, der diesen Begriff prägte – und sich selbst so definierte.

Zu Einsiedels jugendbewegten Freunden gehörte Jochen Peiper, der im Frühjahr 1933 in die HJ und im Oktober 1933 in die SS eintrat. Wenige Jahre später wurde Peiper Adjutant bei Heinrich Himmler („Mein Jochen“). Er war ein im Krieg hochdekorierter SS-Standartenführer der Leibstandarte Adolf Hitler (LSHA). Als Adjutant Himmlers nahm Peiper mit dem „Reichsführer SS“ am 13.12.1939 in Posen an einer Vergasung von sogenannten „Irren“ teil. (Jens Westermeier: Himmlers Krieger: Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn etc. 2014, S.142). Sein ältester Bruder, der schwer behindert war, starb 1942 in einem Berliner Krankenhaus – vermutlich im Zuge der heimlich fortgesetzten „Euthanasie“-Morde.

Peiper, der wegen seiner „Schneidigkeit“ als Kommandeur von SS-Einheiten gefürchtet war, hatte schwere Kriegsverbrechen zu verantworten. Wegen seiner Verantwortung für Kriegsverbrechen u.a. in Italien 1943 und während der Ardennenoffensive Ende 1944 wurde Peiper im Landsberger Malmedy-Prozess zum Tode verurteilt, 1951 jedoch begnadigt. Er kam 1976 bei einem Anschlag zu Tode. Man fand seine verkohlte Leiche in seinem abgebrannten Haus, abgelegen von Traves, einem Ort im westlichen Frankreich.

Schlussfolgerungen

Was haben derartige Verbrechen mit unserem Thema, mit Hans Baumann und der Tradition der deutschen Jugendbewegung zu tun? Es geht um das Selbstverständnis der Protagonisten und Erben der Jugendbewegung – und um das Grundthema menschlicher Existenz. Wie und unter welchen Umständen werden wir zu selbstverantwortlichen, freien und ethisch gefestigten, zu Mitmenschlichkeit befähigten Personen?

Anhand der skizzierten Biographien – von Hans Baumann über Hans Scholl bis hin zu dem Offizier der Waffen-SS, Jochen Peiper, wird deutlich, wie verschieden die Lebenswege von Menschen verliefen, die aus derselben Tradition – aus der Bündischen Jugend der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts – kamen. Die Wurzeln dieser Tradition lagen in den kurzen Jahrzehnten des Kaiserreichs vordergründig in der Ablehnung der als  selbstgefällig wahrgenommenen Welt des wilhelminischen Bürgertums, in der Abwehr des positivistischem Fortschrittsglaubens, in der Kritik an Kapitalismus und industrieller Massengesellschaft. Der damit verbundene Begriff der „Entfremdung“ kam erst in den 1950er und 1960er Jahren – vor der Revolte von „1968“ – zur Blüte. In der Weimarer Republik kam die „Schmach von Versailles“, eine neue Verachtung des „Bürgers“ bzw. „Spießers“ sowie die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie hinzu. Von der  Überwindung solcher Verhältnisse versprach man sich „Freiheit“ und ein „Neues Reich“.

Derlei „Freiheit“ bedichtete Hans Baumann als junger Mann in der Reichsjugendführung der HJ. Inwieweit er vor und nach der deutschen Katastrophe die Folgen seiner Lyrik und seiner prämierten Nebenrolle im System der NS-Diktatur bedachte, ist umstritten. Hans Baumann wird vorgeworfen, nach 1945 jedes öffentliche Schuldeingeständnis vermieden zu haben. Wer die öffentliche Inszenierung scheut, leugnet noch lange nicht seine Schuld. Nicht selten ist das Gegenteil der Fall. Dann handelt es sich um  den Audruck tiefer Scham. Die ursprüngliche Entscheidung Baumanns, alle Lieder „einzustampfen“ (Helmut König), zeigt jedenfalls, wie erschüttert Baumann über die NS-Verbrechen und über seine eigene Rolle im NS-System gewesen sein muss. Dass er einige Lieder („Nur der Freiheit“ gehört nicht dazu) später doch noch „freigab“, ändert daran nichts.

Das Lied „Nur der Freiheit“ als identitätsstiftendes „Bundeslied“ zu nutzen, ist der eine Skandal. Der andere Skandal ist das Schweigen des konservativen Umfeldes, dem sich der Jugendbund zugehörig fühlt. Man ist nicht interessiert: weder am Thema noch an den Jugendlichen. Die Gleichgültigkeit offenbart einen Mangel an Sensibilität - nicht nur in geschichtlichen, sondern auch in gesellschaftlichen Fragen.