Vorbemerkung: Im Jahr 1998 verfasste ich fĂŒr die »sozialistische Tageszeitung« Neues Deutschland (ND), die der Partei âDie Linkeâ (damals PDS) nahesteht, zwei BeitrĂ€ge zum Thema âWie national muss die Linke sein?â. AndrĂ© Brie, der damalige Wahlkampfmanager der PDS, hatte die Idee. Mit meinen zwei AufsĂ€tzen wollte er seiner Partei eine Debatte aufzwingen. Hintergrund war die vorangegangene Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gewesen, bei der die Phantom-Partei „Deutsche Volksunion“ (DVU) 16 Sitze errungen hatte.
Mein erster Beitrag war am 31.07.1998 unter der Ăberschrift: âFĂŒr die Sache des Volkesâ erschienen. Die Reaktion fiel heftiger aus als erwartet. Die ND-Redaktion hatte eine politische Debatte anstoĂen wollen. Stattdessen war sie selbst zur Zielscheibe der Kritik geworden. Da sich die Situation auch nach mehreren Wochen nicht beruhigt hatte, beschloss die ND-Redaktion, meinen zweiten Beitrag „vorerst“ zurĂŒckzustellen. Dabei blieb es. Er wurde nie gedruckt. Deshalb habe ich ihn dokumentiert.
Rechtsradikale Jugendliche
Mit einem RĂŒlpser machten die zwei Skinheads auf sich aufmerksam. Sie waren soeben in die S-Bahn eingestiegen, in der ich saĂ. Einer trug einen AufnĂ€her auf seinem Ărmel: âIch bin stolz, Deutscher zu sein.â ZunĂ€chst wollte ich â genauso wie bei anderen unangenehm wirkenden FahrgĂ€sten â einfach wegsehen. Das war leicht getan. Weghören war jedoch nicht möglich. So verfolgte ich widerwillig den Auftritt der beiden. Dabei fragte ich mich nach den GrĂŒnden fĂŒr ihr provozierendes Verhalten. Ich fĂŒhlte mich herausgefordert. Einerseits sagte ich mir, daĂ ich etwas tun mĂŒsse. Andererseits sagte mir eine innere Stimme: âStill sein und sitzenbleiben!â
Nach einigem Zögern stand ich auf und ging zu den beiden Jugendlichen hin. âWarum benimmst du dich so?â fragte ich denjenigen, der sich als letzter lautstark geĂ€uĂert hatte. âIch finde es gut, daĂ ihr euch zu eurem Land bekenntâ, fĂŒgte ich hinzu. âAber merkt ihr denn nicht, daĂ ihr mit eurem Verhalten den deutschen Namen in den Schmutz zieht?â Die beiden schauten mich verblĂŒfft an. Ihre Körperhaltung verriet Angriffsbereitschaft. Einen Moment schienen sie zu ĂŒberlegen, ob ich mich ĂŒber sie lustig machen wollte. Doch diesen Eindruck erweckte ich offensichtlich nicht. Sie spĂŒrten, daĂ ich sie ernst nahm. Ihre Körperhaltung entspannte sich. Wir kamen ins GesprĂ€ch. Manches von dem, was mir die beiden erzĂ€hlten, erinnerte mich an meine eigene Jugendzeit. Ein paar Stationen spĂ€ter muĂten wir das GesprĂ€ch abbrechen. Die beiden Jugendlichen stiegen aus.
Die Distanz zu eigenen Nation
War mein Verhalten richtig gewesen? Immerhin hatten die Jugendlichen doch nachdenklich reagiert. MuĂ ich mir trotzdem den Vorwurf gefallen lassen, das Falsche getan zu haben? HĂ€tte ich die beiden belehren mĂŒssen, daĂ man als Deutscher auf sein Land nicht stolz sein darf? Die beiden Jugendlichen waren aus dem âWestenâ gewesen. In der Schule hatten sie einiges ĂŒber die Verbrechen des Nationalsozialismus erfahren. Dabei schien der Nationalsozialismus deckungsgleich mit dem Nationalstaat zu sein. Das hatte zur Folge, daĂ im BewuĂtsein dieser SchĂŒler eine Distanzierung vom Nationalsozialismus automatisch auch zu einer Distanzierung vom deutschen Nationalstaat gefĂŒhrt hĂ€tte.
Die Distanz zur eigenen Nation gehört im Westen und zunehmend auch im Osten zum pĂ€dagogischen MarschgepĂ€ck einer ganzen Lehrergeneration. Jener Lehrergeneration, die heute zu groĂen Teilen das Erziehungssystem der DDR als âfaschistoidâ verunglimpft. Das Deutschlandbild, das diese Lehrer ihren SchĂŒlern vermitteln, wird beherrscht durch die TĂ€ter. Der Widerstand im âDritten Reichâ bleibt dagegen merkwĂŒrdig abstrakt. Den SchĂŒlern bietet er kaum Möglichkeiten zur Identifikation. Mit dem Wissen um die Verbrechen, die von Deutschen im deutschen Namen begangen worden waren, lĂ€Ăt man diese SchĂŒler allein.
Das VermÀchtnis des Widerstands
In dem Bild, das sich viele SchĂŒler von Deutschland machen, dominieren Begriffe von Macht, Gewalt und HĂ€rte. Gedanken der FĂŒrsorge, der SolidaritĂ€t und der Hilfsbereitschaft haben darin nur wenig Platz. Und sozialistische Patrioten sind in einer BRD, die sich als Teil der âwestlichen Wertegemeinschaftâ definiert, sowieso nicht gefragt. Dieses Deutschlandbild nimmt auf erschreckende Weise von den SchĂŒlern Besitz. Sie identifizieren sich mit dem Bösen, weil ihnen die Identifikation mit dem Guten verwehrt ist.
Dagegen wurde in der DDR der Widerstand gegen das NS-Regime als Teil der demokratischen Tradition eines âanderen Deutschlandâ behandelt. Das erleichterte den Jugendlichen in der DDR die Identifikation mit dem Staat, in dem sie lebten.
Ein Beispiel: Vor einigen Monaten kamen meine beiden zehnjĂ€hrigen Töchter aufgeregt von der Schule nach Hause. Im Handarbeitsunterricht waren die SchĂŒler von der Lehrerin gefragt worden, was sie stricken möchten. Eine meiner Töchter hatte geantwortet: âEine MĂŒtze fĂŒr unseren Vater.â Als die Lehrerin fragte, welche Farbe die MĂŒtze haben sollte, antwortete meine Tochter: âSchwarz, Rot, Gelb.â Die Lehrerin war fassungslos. âSo etwas tragen doch nur die Nazisâ, lautete die Antwort. Die Lehrerin ist eine liebevolle und besorgte PĂ€dagogin, die sich fĂŒr die SchĂŒler sehr engagiert. Nichts lag ihr ferner als meiner Tochter weh zu tun. Sie glaubte wirklich, was sie sagte. Sie war ehrlich erschĂŒttert. In ihrem Kopf hatte sie die republikanischen Farben mit den Farben der Menschenschinder vertauscht. Sie wuĂte nicht, daĂ unter schwarz-rot-goldenen Fahnen 1832 die Menschen in Hambach sich zur Einheit Deutschlands und zur Freiheit Polens bekannt hatten. Sie hatte vergessen, daĂ die Nazis die ungeliebten Farben durch die Farben des Kaiserreiches ersetzten.
Das demokratische Vorbild
Wie sollen Kinder damit umgehen, wenn sie einerseits lernen, dem Schwachen zu helfen und den Fremden zu achten, und ihnen andererseits das Gemeinwesen, dessen jĂŒngste Glieder sie sind, als völlig wertlos oder sogar verabscheuungswĂŒrdig dargestellt wird? Zur deutschen IdentitĂ€t gehört auch das Wissen um die Verbrechen des âDritten Reichesâ. âAuschwitzâ ist ein Symbol dafĂŒr. Wie sollen sich junge Deutsche zu dieser Verantwortung bekennen, wenn ihnen das Bekenntnis zur eigenen Nation abhanden gekommen ist?
Ein anderes Beispiel: Das Fernsehen zeigte vor einiger Zeit einen Beitrag ĂŒber irgendeine Kleinstadt zwischen RĂŒgen und dem Erzgebirge. Die Stadt zeichnete sich durch die typischen Probleme aus, mit denen die meisten StĂ€dte im Osten zu kĂ€mpfen haben: hohe Arbeitslosigkeit, zu wenig AusbildungsplĂ€tze, Gewalt und Zerstörung, Auflösung der sozialen Bindungen. Dagegen das engagierte BemĂŒhen der Mitarbeiter in den kommunalen Einrichtungen: verstĂ€rktes Angebot von Freizeiteinrichtungen, die Bereitstellung zusĂ€tzlicher ClubrĂ€ume. Finanzielle UnterstĂŒtzung gab es auch von polizeilichen Stellen, die sich dadurch eine Reduzierung der JugendkriminalitĂ€t erhofften. Der Filmbericht machte aber nicht Mut, er zeigte die ganze Hoffnungslosigkeit: Die vielen Freizeitangebote bedeuten auch eine zusĂ€tzliche Erniedrigung fĂŒr die arbeitslosen Jugendlichen. Diese Jugendlichen wollen nicht âaufbewahrtâ und beschĂ€ftigt werden, sondern sie wollen gebraucht und in ihrer Leistung anerkannt werden. Der real existierende Kapitalismus hat ihre Eltern arbeitslos gemacht. Nun wissen sie, daĂ auch fĂŒr sie selbst kein Platz ist.
Das Scheitern der DDR
Viele der Jugendlichen, die frĂŒher mit groĂem Respekt ihren Eltern gegenĂŒberstanden, erleben, daĂ das, was fĂŒr die Eltern wichtig war, wertlos geworden ist. Söhne, die stolz darauf gewesen waren, daĂ ihre VĂ€ter in der NVA oder beim MfS Dienst taten, haben den Sturz ihrer VĂ€ter in die MiĂachtung erlebet. Menschen, die ein halbes Leben lang ihre Pflicht erfĂŒllt hatten, wurden ĂŒber Nacht aus ihren Positionen verjagt. FĂŒr viele bedeutete das FrĂŒhrente oder Arbeitslosigkeit. FĂŒr andere bedeutete das den Eintausch der MilitĂ€rmĂŒtze gegen die Wachschutzuniform und den Vertreterkoffer.
FĂŒr die Kinder dieser gedemĂŒtigten Elterngeneration ist der WertemaĂstab seit dem Mauerfall auf den Kopf gestellt. Vieles von dem, was in der DDR âlinksâ war, gilt im vereinigten Deutschland als ârechtsâ. Das betrifft nicht nur die Haltung zu Armee, Polizei und âRecht und Ordnungâ. Es betrifft auch das gemeinschaftliche Denken, das in der DDR so stark entwickelt war. Es betrifft die FĂŒrsorge gegenĂŒber dem NĂ€chsten und die Liebe zum eigenen Land. In den HaĂgesĂ€ngen eines Teils dieser Jugendlichen drĂŒckt sich auch die Wut ĂŒber diesen Verlust aus. Darin zeigt sich die Sehnsucht nach etwas ganz anderem: nach Liebe und einer heilen Welt, die in der Erinnerung der DDR Ă€hnelt.
Findet die PDS die richtige Anrwort?
Auf diese Sehnsucht muĂ die Linke eine Antwort haben. Die Antwort kann nicht aus einem AufguĂ alter westlinker Stereotypen bestehen. Die PDS darf nicht die Fehler der alten West-Linken wiederholen, fĂŒr die das âVolkâ immer nur eine reaktionĂ€re GröĂe war.
Die PDS-Arbeitsgruppe zur Untersuchung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten in Ost und West, die sich nach den Wahlen in Sachsen-Anhalt gebildet hat, ist ein Zeichen dafĂŒr, daĂ ein Umdenken begonnen hat. Zugleich geht es auch um die Defizite einer westdeutschen Linken, deren antinationale Reflexe in der Vergangenheit immer nur der Rechten genutzt haben. Diese Reflexe haben lĂ€ngst auch die PDS erreicht. Eine grĂŒndliche und vorbehaltlose Diskussion ĂŒber dieses Thema ist deshalb ĂŒberfĂ€llig.
© Roland Wehl aus: Neues Deutschland, 31.07.1998