Am 13. Mai 2015 starb die evangelische Missionarin Gertrud Wehl im Alter von 95 Jahren. Sie wurde am 10. Januar 1920 in Stolp (Hinterpommern, heute Polen) geboren. Ihre Heimat hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Vertreibung verloren. Die Liebe zu den Menschen hatte sie erst zur „Zigeuner-Missionarin“ und später zur „Mutter der Sinti“ werden lassen. Trotz angeschlagener Gesundheit war sie bis zuletzt missionarisch tätig.
Die Missionarin Gertrud Wehl …
Gertrud Wehl war eine Schwester meines Vaters. Sie lebte nach der kriegsbedingten Flucht aus ihrer Geburtsstadt Stolp in der Stadt Oldenburg i.O. bzw. im Oldenburger Umland. In Augustfehn bei Oldenburg war sie als Gemeindeschwester tätig. Gertrud Wehl arbeitete ab 1952 in Hamburg als „Zigeuner-Missionarin“, wirkte aber weit über die Stadt hinaus. In den 1960er Jahren schloss sie sich hin und wieder den Wohnwagen-Karawanen einiger Sinti-Familien an, die quer durch Deutschland und die angrenzenden Länder reisten. Eine dieser ersten Reisen führte sie auch in den Ort, in dem wir – die Familie ihres Bruders – lebte. Unsere Nachbarn bekamen große Augen, als die vielen „Zirkuswagen“ unsere Straße verstopften. Die Augen wurden noch größer, als die südländisch aussehenden Personen, die aus den Fahrzeugen stiegen, das Haus betraten, in dem wir wohnten. Die Frauen waren bunt gekleidet und trugen reichlich Schmuck. Meine Geschwister und ich waren fasziniert. Unseren Eltern schien es wegen der Nachbarn eher peinlich zu sein.
… und der US-Kindermissionar
Zwei Jahre später – ich war 10 Jahre alt – nahm mich ein früherer amerikanischer Soldat, der jetzt in Deutschland als Kindermissionar („Onkel Bob“) tätig war, auf eine Reise mit, die uns nach Hamburg zu meiner Tante führte. Obwohl ich noch ein kleiner Knirps war, durfte ich ihn und meine Tante bei ihren missionarischen Einsätzen begleiten. Der Besuch eines Obdachlosenheims hat sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt: die langen Flure mit vielen Zimmern – und lautes Geschrei. Jeder Raum war von einer anderen Familie bewohnt. Die meisten Bewohner öffneten uns die Tür, um uns hereinzulassen. Wir sangen und beteten miteinander – und meine Tante las aus der Bibel. So kehrte an Orte, an denen kurz vorher vielleicht noch gestritten worden war, tiefer Frieden ein. Zum Schluss erhielten die Bewohner Lebensmittel und Kleidungsstücke.
Aufgrund dieser Erlebnisse fühlte ich mich zu meiner Hamburger Tante besonders hingezogen. Ich besuchte sie in den Schulferien und an Wochenenden – und verdanke ihr wichtige Impulse für mein Leben – auch wenn mir ihr evangelikaler Glaube fremd blieb.
Gertrud Wehl im Urteil anderer
Der Schriftsteller Lothar von Seltmann hat den Lebenslauf von Gertrud Wehl in drei Büchern beschrieben, die im R. Brockhaus Verlag erschienen sind: »Die Chali hat uns Gott geschickt: Schwester Gertrud – ein Leben für die Sinti« (2002); »Schwester Gertruds neuer Auftrag: Die Chali in Rußland« (2004); »Die Chali: Schwester Gertrud – eine Botschafterin Gottes« (2008).
Im Jahr 2000 war in der »Hamburger Morgenpost« das Lebenswerk der damals 80-jährigen Gertrud Wehl gewürdigt worden.
Zehn Jahre später – anlässlich des 90. Geburtstages von Gertrud Wehl am 10. Januar 2010 – schrieb der Journalist Klaus Rösler :
»… Bis heute hält Gertrud Wehl in den Hamburger Sintigemeinden regelmäßig Bibel- und Frauenstunden, organisiert Freizeiten und betreut Gemeindemitglieder seelsorgerlich. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde sie ab 1990 darüber hinaus sozial-diakonisch unter Menschen in Not in Russland aktiv. Jedes Jahr fliegt sie mindestens einmal nach Russland, um gemeinsam mit befreundeten Christen aus den Reihen der Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB) materielle Nöte von Menschen zu lindern … Vom Ruhestand will sie nichts wissen: „Eine Botschafterin Gottes kennt keinen Ruhestand“.«
Für Gertrud Wehl wurden die Hamburger Sinti – insbesondere die Angehörigen der Großfamilien Weiß und Mechau – zu ihrer eigenen Familie. Deren Sprache hatte sie bruchstückhaft schon in den 1950er Jahren gelernt. Das tiefe Vertrauensverhältnis, das zwischen den Sinti-Familien und Gertrud Wehl bestand, hängt mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die Sinti zusammen – und mit den Erlebnissen im Rahmen der Sturmflut, die sich 1962 in Hamburg ereignet hatte. Auf diesen Zusammenhang wies der Journalist Ralf Lorentzen in der »taz« vom 22. März 2011 erneut hin. Den Beitrag können Sie hier aufrufen.
„Im Herzen von Hamburg“
Im Frühjahr 2015 wurde in Hamburg im Rahmen des jährlich stattfindenden Gipsy-Festivals das Theaterstück „Im Herzen von Hamburg“ aufgeführt. Im Mittelpunkt steht die Familie Weiß. Doch am Rande geht es auch um Gertrud Wehl. Die Beschäftigung mit ihrer Person war für die Regisseurin des Theaterstücks, Christiane Richers, eine Herausforderung. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls der Bericht des Journalisten Frank Keil in der »taz« vom 11. April 2015:
»… Gertrud Wehl spielt eine wichtige Rolle: In den 1950er-Jahren kam sie nach Hamburg, stellte sich bei den Behörden vor und verkündete, sie wolle „Zigeuner missionieren“. Nach vielen Widerständen gelingt ihr das tatsächlich … „Wir haben uns an dieser Frau sehr abgearbeitet“, erzählt Richers. „Es gab während der Erarbeitung des Stückes die Formulierung: ’Eine Frau kommt auf den Platz‘ – und im Grunde machen wir das ja auch.“«
Die Formulierung „Eine Frau kommt auf den Platz“ bezog sich auf den missionarischen Einsatz Gertrud Wehls. Über Jahre hinweg hatte sie die Lagerplätze der Sinti aufgesucht – mit einer Gitarre und der Bibel in der Hand. Aber die Menschen wollten nichts von ihr hören. Dennoch blieben die Besuche nicht wirkungslos. Nach der Sturmflut 1962 öffneten sich für Gertrud Wehl die Türen der Wohnwagen: ihre Botschaft war auf dem Platz „angekommen“.
Familien Weiß / Mechau in der NS-Zeit
Die Ablehnung, auf die Gertrud Wehl über viele Jahre gestoßen war, hing mit der NS-Zeit zusammen. Damals, ab Mitte der 1930er Jahre, hatte schon einmal eine Frau – mit einer Gitarre in der Hand – um das Vertrauen der Sinti-Familien geworben. Es handelte sich um Dr. Eva Justin (Bild), Mitarbeiterin der damaligen »Rassenhygienischen Forschungsstelle«. Eva Justin interessierte sich für die genauen Familienverhältnisse der Sinti und ihrer Vorfahren.
Auf Grundlage dieser Angaben konnten später die Deportationslisten erstellt werden. Für die Familie Weiß ist es noch heute ein Wunder, dass die meisten ihrer Angehörigen – anders als bei der Familie Mechau – die Vernichtungslager überlebten.
Die Vorfahren der Sinti stammen aus Indien. Sie kamen vor mehr als 1000 Jahren über Persien und Armenien nach Mitteleuropa. Die Sinti besitzen seit Generationen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Männer dienten als deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg – und auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Mit der Planung des Holocaust an den europäischen Juden gerieten auch die Sinti ins Visier der Mörder. Die meisten von ihnen wurden aus „rassepolitischen Gründen“ aus der Wehrmacht entlassen – und in eines der Vernichtungslager deportiert. Von denen, die überlebten, wurden einige bei Kriegsende erneut in eine deutsche Uniform gesteckt – und als „Kanonenfutter“ an die Front geschickt.
Vertrauensmissbrauch und Folgen
Von den Mitarbeitern der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« wurde nach 1945 niemand für seine Tätigkeit belangt. Im Gegenteil: der Leiter der Forschungsstelle, Dr. Robert Ritter, wurde von der Stadt Frankfurt/Main zum Obermedizinalrat befördert. Er starb 1951. Gegen Eva Justin wurde zwar ein Ermittlungsverfahren eingeleitet – aber nach kurzer Zeit eingestellt. Sie war später an der Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt/Main tätig und starb 1966. In einem „Zigeunerlager“ bei Frankfurt/Main hatte sie noch zwei Jahre zuvor „Feldforschungen“ durchgeführt.
Die Medizinerin Dr. Eva Justin hatte im Rahmen ihrer Tätigkeit für die »Rassenhygienische Forschungsstelle« das Vertrauen der Sinti-Familien missbraucht. Doch davon wusste Gertrud Wehl nichts, als sie über Jahre hinweg die Lagerplätze der Sinti aufsuchte – und von den Menschen zurückgewiesen wurde. Erst sehr viel später erfuhr sie davon.
August Weiß und Kesa
Als Kind und Jugendlicher besuchte ich den 1960er und 70er Jahren einige Male den alten Lagerplatz der Sinti-Familien Weiß und Mechau in Hamburg-Wilhelmsburg. Dort lebten mehr als 400 Menschen auf engem Raum. Die Jugendstunden, an denen ich teilnehmen durfte, sind mir noch gut in Erinnerung. Die Begegnungen mit August Weiß, dem Sinti-Bürgermeister, und mit Kesa, dem berühmte Musiker, der mich als Jugendlichen ermahnte, mich ordentlicher zu kleiden, werde ich nicht vergeseen. Sie waren beeindruckende Persönlichkeiten. Das begriff ich, obwohl ich noch sehr jung war.
Der Lagerplatz musste später einem Gewerbepark weichen. Die damalige sozialliberale Koalition in Hamburg nahm dies zum Anlass, ihre Vorstellung von Integration umzusetzen. Die Familienangehörigen sollten auf Sozialwohnungen im gesamten Stadtgebiet verteilt werden. Für den Zusammenhalt und die kulturelle Identität der Sinti eine Katastrophe. Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ protestierte gegen die Pläne. Schließlich entstand für einen Teil der Sinti-Familien nur wenige Meter entfernt – am Georgswerder Ring – eine neue Wohnsiedlung. Dort befindet sich heute das kulturelle Zentrum der beiden Großfamilien – und die Hütte „Geborgenheit“.
Die Frage der kulturellen Identität
Wie weit darf Mission gehen? Wann wird sie zu einer Bedrohung anderer Kulturen? Selbst unter denen, die jede Mission als kulturellen Angriff ansehen, und die deshalb auch den missionarischen Einsatz von Gertrud Wehl kritisierten, gibt es kaum jemanden, der nicht von dieser Frau – und ihrer Nächstenliebe – beeindruckt war. Gertrud Wehl war von einem Glauben erfüllt, der ihren Blick auf die Welt nicht verengte. Es fiel ihr leicht, fremde Traditionen anzuerkennen und die Sinti zu verstehen.
Gertrud Wehl wuchs in einem Elternhaus auf, in dem oft christliche Lieder gesungen wurden. Auch sie selbst sang gerne – am liebsten Lieder zur Lobpreisung Jesu. Das hinderte sie nicht, denjenigen Sinti Anerkennung zu zollen, die das kommerzielle musikalische Vermächtnis ihrer Vorfahren bewahren und weitergeben wollen.
Dazu gehören die Angehörigen der Familien Mechau und Weiß, die im Jahr 2006 in Hamburg das Cafe Royal Salonorchester (Bild) gründeten. Die „weltliche“ musikalische Ausrichtung des Orchesters entzweite die Hamburger Sinti-Gemeinde, weil einige ihrer Mitglieder bis heute jede Form von „Vergnügungsmusik“ ablehnen. Sie begründen dies mit ihrem christlichen Glauben. Gertrud Wehl sah das anders. Sie wusste, wie wichtig die kommerzielle Musik für die künstlerische Entwicklung der Musiker – und damit auch für die Bewahrung des kulturellen Erbes der Sinti – ist. Darum stärkte sie den Mitgliedern des Orchesters den Rücken.
Gertrud Wehl verfügte über einen weiten Blick – und über ein großes Herz.
In dem Beitrag „Zigeuner: Geschichte und Lebensweise des Nomadenvolkes“, der im Januar 1962 von dem Fernseh-Magazin Panorama (NDR) ausgestrahlt wurde, kommt Gertrud Wehl kurz zu Wort.