Mahatma Gandhi

Seit einem Jahr läuft der Film „Gandhi — Sein Triumpf verändert die Welt” in den westdeutschen und Westberliner Lichtspieltheatern. Wenn von diesem Film als dem herausragenden Kinoereignis des Jahres 1983 gesprochen wird, muss es dafür Gründe geben. Gründe, die in der ausgezeichneten Regie und Kameraführung wurzeln können, in einer spannungsgeladenen Handlung oder in der Beziehung zu Erfahrungen des (west-) deutschen Zuschauers, die ihn seine eigene, alltägliche Betroffenheit spüren lassen.

Zwar geriet der Regisseur, der Engländer Richard Attenborough, zwischenzeitlich ins Zwielicht, als er eine Einladung der südafrikanischen Rassisten zunächst annahm, der Premiere seines Filmes vor einem ausgesucht weißen Publikum beizuwohnen. Sein Streifen jedoch ist eine brillante Inszenierung mit lebendigen und eindrucksvollen Bildern. Der Zuschauer fühlt sich selbst gepackt, wenn er sieht, wie der junge Gandhi aus einem Eisenbahnabteil gezerrt wird — weil er eben nicht weiß genug ist.

Gandhis Widerstandsaktionen gegen die Unterdrückung der indischen Volksgruppe in Südafrika — wie z.B. der Kampf gegen die Abschaffung des Wahlrechtes für Inder, die geschlossene Verweigerung der Zwangsregistrierung und das demonstrative Verbrennen der Registrierausweise — lassen ahnen, welch entschlossener Geist hier wirksam wird. Einige Widersprüche werden im Film jedoch ausgeklammert oder nur am Rande behandelt, obwohl sie als Kontrastmittel wichtig wären, um den ganzen Gandhi kennenzulernen: Gandhi kämpfte während seiner Afrika-Zeit nicht grundsätzlich gegen rassistische Praktiken, sondern nur, soweit Inder betroffen waren. Nicht allgemeine Menschenrechte wollte er durchsetzen, sondern die Ausweitung der für Engländer geltenden „Herren” -Rechte auf Inder. Weil Indien zum Britischen Empire gehörte, hätten nach Gandhi die Inder wie Briten behandelt werden müssen.

Man darf nicht meinen, dies sei nur eine geschickte, diplomatische Redewendung gewesen. Gandhi meinte sie ernst. Er war nicht nur strenger Legalist, sondern hielt sich tatsächlich für einen Angehörigen der englischen Nation. Er war eben noch ein Kolonialkind. Aus diesem Grund war es für ihn damals auch nur konsequent, sich bei allen Kriegshandlungen als Freiwilliger auf englischer Seite zur Verfügung zu stellen: Als 1899 England gegen die Buren zu Felde zog, schrieb Gandhi: „Unsere einfachste Untertanenpflicht ist es … nicht, uns den Kopf zu zerbrechen, ob dieser Krieg berechtigt sei oder nicht, sondern nach besten Kräften mitzuhelfen”. Auch als 1906 ein Zulu-Aufstand niedergeschlagen werden sollte, mobilisierte Gandhi indische indische Freiwillige.

Doch gleichzeitig entwickelte sich in dieser Zeit das, was der Film so gelungen wiedergibt: Gandhis Suche nach dem individuellen und kollektiven „Ich” . Gandhi gründet den Tolstoj-Ashram und versucht eine alternative Lebenspraxis. Ern ganzheitlicher Lebensbegriff prägt die Kommune, der sich u.a. ausdrückt in einer Art Antipädagogik, die die Kinder der Gemeinschaft vom Schulbesuch befreit. Deutlich zeigt der Film, wie stark sich Gandhi veränderte: 1915 kehrt er nach langen Jahren heim. Doch nicht in einem englischen Anzug, sondern nach indischer Art in Tuch gehüllt, betritt er sein Heimatland. Gandhi glaubt, seine nationale Identität wiederentdeckt zu haben. Eine jubelnde Menschenmenge empfängt ihn als den „Mahatma” („Große Seele” ), eine Bezeichnung, die ihm der indische Dichter und Phüosoph Rabindranath Tagore verliehen hatte.

In Indien fuhrt Gandhi weiter, was er in Südafrika begonnen hatte. Schon wenige Monate nach seiner Ankunft gründet er einen neuen Ashram. Was er hier mit seiner Gemeinschaft vorlebt, ist sein Programm für Indien: Kleine und autarke Nachbarschaften, deren Mitglieder sich in wirt­schaftlicher Selbstbescheidenheit üben, sollen das ganze Land durchziehen. Besonders der Handarbeit misst Gandhi große Bedeutung bei. Das Spinnrad wird zu einem Symbol neuen Lebensmutes und nationaler Selbstbesinnung. Indien soll unabhängig werden von englischen Textilien.

Wenn die nationale Frage sinnlich bisher nur in Form täglicher Entrechtung und Bevormundung erfahrbar war, wird sie jetzt positiv erlebbar: Im Sinne eines wachsenden Selbstvertrauens, das sich ausschließlich auf die eigene Kraft verlassen will.

In dem ethnisch und religiös zersplitterten Indien hatten die englischen Okkupanten es immer leicht gehabt, ihre Herrschaft nach der bewährten Strategie des „Teile und herrsche” zu sichern. Die Religion der Wahrheit, Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit, die Gandhi nun dagegensetzt, wird damit zur Religion der nationalen Befreiung. Sie entlarvt jene im Lande, die zwar ständig von nationaler Selbständigkeit sprechen, dabei jedoch nur ihre persönliche Machterweiterung im Auge haben. Jene, die stolz sind, englisch zu denken und zu fühlen, und die deshalb längst nicht mehr nur Opfer, sondern bereits Träger der geistigen Kolonisation Indiens geworden sind: Fürsten, Kapitalisten, aufsteigendes Bürgertum und Büdungsadlige, die unter der englischen Kolonialmacht ohnehin nie zu leiden hatten. Was Gandhi von ihnen hält, sagt er deutlich bei der Einweihung der Universität in Benares: Die Fürsten sollten ihre Juwelen ablegen. Die Rettung Indiens komme nicht von Großgrundbesitzern und Akademikern, sondern von den Bauern. Die Mobilisierung des gesamten Volkes ist eine entscheidende Qualität des indischen Aufstandes. Hier Führt keine Minderheit einen Stellvertreter-Krieg, sondern ein ganzes Volk verweigert sich den Kolonialherren, wie z.B. 1922 im Rahmen des Steuerstreiks oder später, während der Kampagne des zivilen Ungehorsams. So wird der berühmte Salzmarsch vom 12.3. bis 6.4.1930 zu einer Prozession indischen Freiheitsgeistes.

Gandhi weiß, wie wichtig die Einheit der vielen indischen Stämme für die Erringung der Unabhängigkeit ist. Deshalb bemüht er sich fortdauernd um Verständigung zwischen Moslems und Hindus sowie um Aufhebung des Spaltungscharakters der indischen Kastenordnung. Was im Kinosaal als himmlische Erleuchtung empfunden wird, wurde zur selben Zeit von vielen indischen Unabhängigkeitskämpfern abgelehnt: Gandhis strikte Gewaltlosigkeit. Ohne die historische Bedeutung seiner Mission schmälern zu wollen (und zu können), zeigt ein kleiner Ausflug, dass es keine universalen Rezepte gibt: 1938 behandelte Gandhi in einem Artikel die Lage der Juden in Deutschland. Er empfahl ihnen, die Methode des gewaltlosen Widerstandes nach seinem Vorbild anzuwenden. Nach einem anderen Dokument hat er sogar geraten, die Juden sollten kollektiv Selbstmord verüben.

Am 24. Februar 1939 antwortete ihm Martin Buber: „Juden werden verfolgt, gepeinigt, umgebracht. Und Sie…sagen, ihre Lage… entspreche genau der Lage der Inder in Südafrika zur Zeit, als Sie dort Ihre berühmte ‘Wahrheitskraft’-Kampagne eröffneten … Ich habe diese Sätze Ihres Artikels wieder und wieder gelesen, ohne sie zu verstehen…”.

1942 bricht noch einmal ein Massenaufstand aus, nachdem Gandhi erneut verhaftet worden ist. In London setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Indien nicht mehr lange als Kolonie zu halten sein wird. Die letzten Schritte auf dem Weg zur indischen Unabhängigkeit sind zu gehen. Damit stellen sich alte Fragen wieder neu, denn das Gebot der Einheit besaß für viele nur strategische Bedeutung. Religiöse Minderheiten mit ethnischen Gruppenmerkmalen streben die eigene staatliche Existenz an. Heftig entlädt sich der Konflikt zwischen Hindus und Moslems. Der 16. August 1946 fordert in Kalkutta zahlreiche Tote. Im Sommer 1947 eskaliert die Gewalt zu einem wahren Blutrausch.

Gandhi hat die Teilung Indiens als geistige Tragödie bezeichnet und mit aller Kraft zu verhindern gesucht. Vor dem Hintergrund der heutigen Existenz der Staaten Bangla-Desh, Pakistan und Indien sowie der z.Zt. um Autonomie ringenden Minderheiten, wie z.B. der Sikh-Bewegung, stellt sich allerdings die Frage, ob diese Entwicklung nicht eher Gandhis Streben nach nationaler Identität entspricht, als seine eigene Propagierung eines indischen Großstaates. Rabindranath Tagore schrieb dazu: „Indien hat eine zu große Ausdehnung und beherbergt zu verschiedene Rassen. Es sind in ihm viele Länder in einem geographischen Behälter zusammengepackt…. (darin) hat auch das Kastensystem seinen letzten Grund.” Der Film jedoch lässt auch an diesem Punkt keine Zweifel aufkommen. Gandhi bleibt der göttliche Held, der festlegt, was richtig, was gut und was indisch ist.

Trotz der übertriebenen Glorifizierung des Idols bietet der Film dem Zuschauer die Chance, Gandhis Leben zur eigenen Wirklichkeit in Bezug zu setzen. Nicht um zu kopieren, wie das gegenüber göttlichen Helden auf der Hand läge, sondern um sich auf Fragen einzulassen, die uns vielleicht neu sein mögen, die aber in jedem Fall unsere eigene Antwort verlangen. Der ehemalige Dekan der Theologischen Fakultät Wien und heutige Kirchendissident, Hubertus Mynarek, spricht mit Blick auf Strömungen innerhalb der Friedens- und Lebensschutzbewegung von einer ökologischen Religion, die nichts mit Weihrauch und Priesterhierarchie, aber viel mit Selbstbesinnung und Rückbindung zu tun hat. Das kennzeichnet Einsichten, die auch Gandhis Leben bestimmten: Die Suche nach kollektiver Identität.

Gandhi war ein früher Verbündeter der heutigen oppositionellen Basisbewegungen in den Kirchen und etablierten Religionsgemeinschaften. Er duldete keine Trennung zwischen ,.Politik” und „Religion“: Die indische Unabhängigkeitsbewegung leitete als religiöse Erweckungsbewegung einen nationalen Selbstfindungsprozeß ein. Nationale Identität als religiöse Frage — der Film regt an, darüber nachzudenken.


© Roland Wehl aus: Zeitschrift ‘wir selbst’, Ausgabe 1/1984