Der beste Schutz der Demokratie besteht in der staatsbürgerlichen Gesinnung der Bürger. Denn „der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Diesen oft zitierten Satz des Staatsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde aus dem Jahr 1976 sollte jeder beachten, dem der Schutz unserer verfassungsmäßigen Ordnung am Herzen liegt. Das gilt erst recht für diejenigen, die beruflich mit diesem Schutz betraut sind: die Mitarbeiter der Verfassungsschutzbehörden. Sie sollen frühzeitig vor den Gefahren durch Extremisten warnen – und damit das staatsbürgerliche Bewusstsein stärken.
Doch was ist, wenn die verfassungsfeindlichen Bestrebungen ausgerechnet von denen ausgehen, die unsere Rechtsordnung schützen sollen? In der Vergangenheit wurden immer wieder Fälle bekannt, in denen der Verfassungsschutz vor Gefahren warnte, für die er im Vorfeld selbst gesorgt hatte. Menschen wurden mit Billigung der Behörden – und mit Hilfe sogenannter „V-Leute“ – zu Straftaten angestiftet, die sie ohne diese Beeinflussung wohl nicht begangen hätten. Einmal war ich selbst von der Einflussnahme eines „V-Mannes“ betroffen. Die Geschichte, die ich mit dem Verfassungsschutzagenten erlebt habe, ist besser zu verstehen, wenn man weiß, was sich damals links und rechts des Weges ereignete.
Aus diesem Grund hole ich weit aus: Ich lade Sie ein auf eine Zeitreise in die erste Hälfte der 1970er Jahre. Damals wurde hart gestritten, allerdings ohne die moralisch-religiöse Überheblichkeit, die heute viele Debatten vergiftet – und manche sogar verhindert. Diese Entwicklung sehe ich mit Sorge. Deshalb soll mein Bericht auch ein Plädoyer für eine neue demokratische Streitkultur sein.
Ein V-Mann des Verfassungsschutzes
Im April 1974, vier Wochen nach meinem 17. Geburtstag, traf ich am Rande einer politischen Versammlung auf einen Mann, der freundlich lächelte, es aber nicht gut mit mir meinte. Er war auf mich aufmerksam geworden, weil ich mich kurz vorher zu Wort gemeldet und den Hauptredner kritisiert hatte.
Es handelte sich um eine Veranstaltung der NPD. Die Partei war schon damals verrufen, aber nicht in dem Ausmaß wie heute. Die Lokalzeitung unserer Stadt veröffentlichte kostenlos die von der Partei mitgeteilten Termine. Das Hotel, in dem die Versammlung stattfand, zählte zu den besseren Adressen. Ich gehörte seit zwei Jahren den „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) an. Die Jugendorganisation hatte damals rund 1.600 Mitglieder. Das Mindestalter betrug 15 Jahre.
Mein Eintritt in die Jugendorganisation
Ich war 1972, gleich nach meinem 15. Geburtstag (Bild), Mitglied geworden. Doch Kontakt zur Partei hatte ich schon länger. Als ich 12 Jahre alt war, stand ich erstmals vor dem Reihenhaus, in dem der NPD-Kreisvorsitzende mit seiner Familie wohnte: Johann Straatmann, genannt „Jonny“, war „Kapitän zur See“. Seine Adresse hatte ich im Telefonbuch gefunden. Artig stellte ich mich dem Mann vor. Ich sagte, dass ich mithelfen wolle. Kapitän Stratmann ließ mich herein, wirkte aber etwas ratlos. Er wusste nicht, was er mit dem zwölfjährigen Knirps anfangen sollte.
Die „Jungen Nationaldemokraten“ hatten damals noch kein einziges Mitglied in unserer Stadt. Nicht einmal der Sohn von Jonny Straatmann – er absolvierte gerade seinen Wehrdienst – gehörte den „Jungen Nationaldemokraten“ an. Ich selbst war mit zwölf Jahren noch viel zu jung, um Mitglied werden zu können.
Meinen Eltern erzählte ich nichts von meinem Besuch. Sie erfuhren davon erst durch einen Anruf des Kreisvorsitzenden. Danach verboten sie mir jeden weiteren Kontakt. Aber das hielt mich nicht ab. Abends besuchte ich die Veranstaltungen – und saß als einziger Jugendlicher unter lauter älteren, biederen Leuten. Ich war stolz, als mir eines Tages angeboten wurde, die Parteizeitung zu verteilen. Das setzte ich auch gleich um – und schwänzte dafür die Schule. Mein besorgter Vater erfuhr dies von seinem Kollegen, der mich beim Verteilen gesehen hatte, und versohlte mir am Abend den Hintern. Aber das bestärkte mich eher in meinem Verhalten.
Vertreibung und „neue Ostpolitik“
Mein Entschluss, mich politisch zu engagieren, hing mit der sogenannten „neuen Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt und der von ihm geführten Bundesregierung zusammen. In der „Deutschen National-Zeitung“, die ein Onkel mitgebracht hatte, wurde behauptet, dass der Kanzler und sein Außenminister Walter Scheel (FDP) das Ziel der Wiedervereinigung aufgegeben hätten, und dass die Regierung die Annexion der deutschen Ostgebiete anerkennen wolle. Das empörte mich, weil es in meinen Augen die Vertreibung von 1945 nachträglich legitimierte. Damals ging man davon aus, dass rund 2 Mio. Deutsche dabei umgekommen seien. Die Zahl war wohl zu hoch. Heute spricht man von rund 600.000 Toten.
Auch meine Eltern hatten durch die Vertreibung ihre Heimat verloren. Sie lernten sich 1945 in der Kriegsgefangenschaft kennen. Meine Mutter stammte aus dem Dorf Kuschten im Bezirk Posen, mein Vater aus Stolp in Pommern. Beide Orte liegen heute in Polen. Der Vater meiner Mutter war 1945 von den Sowjets verschleppt worden. Er starb in Sibirien. Die Nazis hatte er nie gemocht. Welche persönliche Schuld hatten er, seine Ehefrau, die anderen Großeltern und die übrigen vertriebenen Deutschen auf sich geladen, dass ihre Vertreibung gerechtfertigt gewesen wäre?
Bei der von den Siegern des Zweiten Weltkriegs beschlossenen Vertreibung handelte es sich um eine „ethnische Säuberung“, die gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 verstieß. Die vorherige verbrecherische Politik des NS-Regimes änderte nichts an der Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibung. Das Völkerrecht unterscheidet nicht und fragt nicht nach Gründen. Jede „ethnische Säuberung“ ist ein Verbrechen.
Den Massenmord an den europäischen Juden, der erst durch Truppen der Siegermächte – und die vollständige Kapitulation der Wehrmacht – beendet worden war, brachte ich nicht mit der ab 1945 stattgefunden Vertreibung der deutschen Bevölkerung in Verbindung. Und die sonstigen Verbrechen, die von Angehörigen der Polizei und Wehrmacht in der Sowjetunion und in Polen verübt worden waren, hielt ich für schreckliche, aber übliche Kriegsverbrechen, wie sie in allen Kriegen auf allen Seiten vorkommen. Das sahen meine Klassenkameraden auf der Volksschule nicht anders. Bereits als Zehnjährige lasen wir „Landser“-Hefte, und wir spielten auf dem nahe gelegenen Truppenübungsplatz. Auf den schlichen wir uns besonders gerne, wenn gerade Truppenübungen stattfanden. Das hielten wir für „Krieg“. Unsere Väter waren im „Dritten Reich“ Soldaten gewesen. Zuhause aßen wir noch bis Ende der 1960er Jahre von Tellern, die aus Wehrmachtsbeständen stammten und auf der Unterseite ein Hakenkreuz aufwiesen. Das Geschirr war meinen Eltern geschenkt worden, als sie Ende 1945 mittellos aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden waren. Irgendwann wurde das Geschirr an eine andere Familie, der es materiell weniger gut ging, verschenkt. Wir hatten neues Geschirr angeschafft. Das alte Geschirr wegzuschmeißen, kam nicht infrage, denn Porzellan war teuer. Heute fasst man sich an den Kopf, aber damals grinsten unsere Gäste nur, wenn sie es zufällig entdeckten. Ein politisches Bekenntnis war damit nicht verbunden. Unsere Eltern hatten sich vom Nationalsozialismus längst abgewandt.
Umgang mit der NS-Zeit
Der Holocaust war damals im gesellschaftlichen Bewusstsein viel weniger verankert als heute. Und die Kriegsverbrechen lastete man allein der Waffen-SS an. Umso erstaunlicher ist es, dass die SPD die „Kameradschaftstreffen“ der Waffen-SS in den ersten Jahren mit Grußworten erfreute. Die ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS standen der SPD oft näher als der CDU. Einer von ihnen war Günter Samtlebe. Er trat 1946 in die SPD ein und war von 1973 bis 1999 Oberbürgermeister von Dortmund. In der SPD wusste man, dass er sich 1943 freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte. 1983 erfuhr auch die breite Öffentlichkeit davon. Dem Ansehen von Günter Samtlebe schien das nicht geschadet zu haben. Er war nicht der einzige SPD-Politiker mit einer solchen Vergangenheit.
Das sagt viel über den gesellschaftlichen Konsens in der jungen Bundesrepublik aus. Viele Deutsche erinnerten sich durchaus positiv an die ersten sechs Jahre der NS-Herrschaft: die sogenannte „Friedenszeit“. Und die Kriegszeit? Die einstigen Wehrmachtsangehörigen waren die mit Abstand größte gesellschaftliche Gruppe. Auch deshalb galt die Wehrmacht lange Zeit – über alle Parteigrenzen hinweg – als „saubere Truppe“.
Ein unerwarteter Pluralismus
Nachdem ich der Jugendorganisation beigetreten war, eröffnete sich mir eine neue Welt. Ich stieß auf die unterschiedlichsten Milieus – und stellte fest, wie begrenzt mein Weltbild bisher gewesen war. Manche Mitglieder sahen aus wie die „linken“ Studenten in meiner Heimatstadt. Sie redeten auch ähnlich. In Ostwestfalen gab es einen Kreisverband, dessen Mitglieder mich an Jusos erinnerten. Andere hätten gut in die „Junge Union“ (JU) gepasst. Die politische Grenze verlief zu denen, die ein apologetisches Verhältnis zum „Dritten Reich“ pflegten. So groß die politischen Differenzen waren, so groß waren die Konflikte. Das einigende Band war die „nationale Frage“.
Deutschland war geteilt. An der innerdeutschen Grenze schossen Deutsche auf Deutsche. Und die einstigen Sieger konnten nach dem Kriegsende noch jahrzehntelang – aufgrund der „alliierten Vorbehaltsrechte“ – die Politik in Deutschland mitbestimmen. Viele Deutsche hatten sich damit abgefunden. Dagegen wollten wir etwas tun.
Der bunte Strauß unterschiedlicher Meinungen, der sich mir in der Jugendorganisation darbot, löste einen politischen Dammbruch aus, denn ich kam mit völlig neuen Ideen in Berührung. Einen wichtigen Impuls verdanke ich meinem Bruder. Er brachte eines Tages ein Flugblatt mit, das an der Universität verteilt worden war – und dessen Titel mich elektrisierte: „Gegen rote, braune und schwarze Reaktion: Nationalrevolution!“. Bald sah ich vieles, was ich bisher abgelehnt hatte, in einem anderen Licht. In meinem Kopf setzte sich ein politisches Karussell in Bewegung, das mich aus der Jugendorganisation hinaustrug. Im Herbst 1974 trat ich aus. Ich war nicht der einzige. Später kam es sogar zu einer Austrittswelle (mehr dazu in: Linke und Nation II).
Manchmal staune ich, wenn ich heute auf Namen von Personen stoße, die früher Mitglied der NPD waren oder deren Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ angehörten, und die sich später politisch oder beruflich hoher Reputation erfreuten. Stellvertretend dafür kann ich die folgenden zwei Personen nennen, ohne ihnen damit zu schaden: Roland Brehm und Gert Hoffmann.
Roland Brehm war nach Abschluss seines Studiums der Sozialpädagogik über viele Jahre Vorsitzender der Gesamtmitarbeiter-Vertretung und Mitglied des Verwaltungsrates der von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bethel. Er starb 2013 im Alter von 57 Jahren. In den 1970er Jahren war Roland Brehm Mitglied der „Jungen Nationaldemokraten“ (JN). Damals trat er im Rahmen der NPD und ihrer Jugendorganisation als Liedermacher auf.
Gert Hoffmann ist der Name des langjährigen Oberbürgermeisters der Stadt Braunschweigtrat. Er trat Ende der 1960er Jahre der NPD bei. Gert Hoffmann war Mitbegründer des Nationaldemokratischen Hochschulbundes (NHB). Das schreibt er selbst in seiner im Jahr 2018 erschienenen Autobiografie.
Das Gesicht einer Organisation verändert sich, wenn die einen gehen – und die anderen bleiben. Als ich 1974 die Jugendorganisation verließ, gab es schon damals gute Gründe dafür. Dennoch hätte ich mir die spätere politische Entwicklung dieser Jugendorganisation nicht vorstellen können.
So wurde ich zur „Zielperson“
Der Mann, der mich im April 1974 auf der NPD-Versammlung ansprach, lobte meinen Redebeitrag. Ich ahnte nicht, dass er im fremden Auftrag handelte und mich zu Straftaten verleiten wollte. Die Verfassungsschutzbehörde hatte ihn kurz vorher als „V-Mann“ angeworben. Zuvor hatte der Mann wegen Betruges eine längere Haftstrafe verbüßt. Er hatte Kleinanleger betrogen und einen Millionen-Schaden verursacht. Aber das ahnte ich nicht, als er vor mir stand und mich anlächelte. Ich vertraute ihm.
Ich erzählte ihm von meinem Versuch, eine parteikritische Jugendgruppe aufzubauen. Er bot mir an, dabei zu helfen. Das Angebot nahm ich an. So wurde ich zur „Zielperson“ des Agenten – und zu dessen Einnahmequelle: Je mehr der V-Mann über mich und unsere Gruppe berichtete, umso höher war sein Agentenlohn. Das zeigen die Unterlagen, die – aufgrund eines Datenlecks in der Behörde – zehn Jahre später den Weg in die Öffentlichkeit fanden.
Bald verfügte unsere Gruppe über Büroräume, die der Agent vermittelt hatte. Die Wände des Büros schmückten wir mit Plakaten und Bildern, die unsere politische Position ausdrücken sollten. Bilder von Marx und Engels hingen neben Bildern von Ernst Niekisch und dem Hitler-Attentäter Stauffenberg. Das Gedicht von Pablo Neruda, das die Wand hinter dem Besprechungstisch zierte, richtete sich gegen die chilenische Militärjunta und den Putsch von 1973. Ein anderes Plakat forderte die Streichung des Paragraphen 218 StGB.
Die meisten Plakate hatte ich in der „Carl-von Ossietzky-Buchhandlung“, die sich in der Bergstraße in Oldenburg befand, erstanden. Der Buchladen umfasste nur zwei kleine Räume, war aber eine wichtige Begegnungsstätte. Der Inhaber des Buchladens, Michael Rittendorf (er lebt heute in Lübeck), kannte meinen Hintergrund, der nicht zu der politischen Ausrichtung des Buchladens zu passen schien. Wir sprachen oft miteinander. Er war ein angenehmer Gesprächspartner und schien sich nicht über meine Einkäufe zu wundern. Neben den Plakaten aus dem Buchladen hing eine Deutschlandkarte, die Österreich mit einschloss. Vorübergehend hatten wir sogar ein Porträt von Mao Tse-tung in dem Raum hängen. Die wirre Mischung zeigt, dass wir nicht über ein geschlossenes Weltbild verfügten, sondern auf der Suche waren.
Von rechts nach links mit Ernst Busch
Der V-Mann unterstützte alles, was wir sagten, wird sich aber insgeheim über uns gewundert haben. Nach Auffassung der Verfassungsschutzbehörde waren wir „Rechtsradikale“, doch die Ideen, die wir seit geraumer Zeit vertraten, widersprachen allen üblichen Klischees. Über die „konservativen Spießer“ lachten wir. Und diejenigen, die wir für (Neo-) Nazis hielten, verachteten wir. Am Ende hielt ich mich sogar für einen Linken. Das führte zu immer mehr Konflikten. Den V-Mann schien das nicht zu irritieren. Er hatte einen Job zu erfüllen – und passte sich den Verhältnissen an.
Nachdem mir meine Freundin – sie bewegte sich im Umfeld der maoistischen KPD (AO) – eine Schallplatte aus dem (DKP-nahen) Pläne-Verlag mit Liedern der Arbeiterbewegung geschenkt hatte, überreichte mir der V-Mann kurze Zeit später eine Schallplatte desselben Verlages mit Gedichten und Liedern von Erich Kästner.
Der Pläne-Verlag hatte seinen Sitz in Dortmund und erhielt finanzielle Unterstützung aus der DDR. Bei den Schallplatten handelte es sich jeweils um Aufnahmen von Ernst Busch, dem Arbeiterkultur-Denkmal der DDR. Die Lieder („Roter Wedding“ etc.) kannte ich bald auswendig. Dabei hatte ich – ebenso wie meine Freundin – nichts mit den Verhältnissen in der DDR am Hut.
Mir imponierten die Gruppen der maoistischen ML-Bewegung („Marxisten-Leninisten“). Sie traten für die deutsche Einheit ein und bezeichneten die DDR als „sozialfaschistischen“ Staat. Die Spaltung Deutschlands war für sie die Spaltung der deutschen Arbeiterklasse. Mao Tse-tung und den chinesischen Weg zum Sozialismus bewunderte ich damals noch selbst – in Unkenntnis der Millionen Toten, die der „Große Vorsitzende“ auf dem Gewissen hatte. Allerdings beriefen sich die maoistischen ML-Gruppen auch auf Josef Stalin. Von dessen Verbrechen wusste ich genug. Die Stalin-Verehrung stieß mich ab.
Vom KBW zu den GRÜNEN: Dieter Mützelburg
Die maoistischen ML-Gruppen verstanden sich als Kaderorganisationen. Sie hatten zehnmal mehr Anhänger als Mitglieder. Die stärkste Gruppe war der „Kommunistische Bund Westdeutschland“ (KBW) mit bis zu 7.000 Mitgliedern. Dem KBW in Bremen gehörte auch Dieter Mützelburg an. Wir lernten uns im Frühjahr 1974 bei einer Veranstaltung der „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) kennen, die in der Bremer Stadthalle stattfand. Dieter Mützelburg war mit einigen KBW-Genossen gekommen, um mit dem politischen Gegner zu diskutieren. Das unterschied ihn und die übrigen KBW-Leute von denen, die vor der Stadthalle demonstrierten.
Dieter Mützelburg war in der Lehrerbildung tätig und sollte später wegen der Zugehörigkeit zum KBW aus dem Hochschuldienst entlassen werden. Doch dazu kam es nicht. Und inzwischen ist das viele Jahrzehnte her. Auch Dieter Mützelburg hat eine politische Entwicklung hinter sich, die ihn zum Kritiker seiner früheren politischen Überzeugung werden ließ. Inzwischen kennt man ihn vor allem als Sportsoziologen und als ehemaligen Landespolitiker von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Nachdem ich mich im Laufe der JN-Veranstaltung auch selbst zu Wort gemeldet hatte, kam Dieter Mützelburg auf mich zu. Was ich gesagt hatte, widersprach dem Bild, das er sich von den jungen Rechtsradikalen bzw. dem NPD-Nachwuchs gemacht hatte. Er sprach mich an, weil er sein Bild überprüfen wollte. Und weil er verstehen wollte, warum Jugendliche wie ich sich einer Organisation angeschlossen hatten, die als rechtsradikal galt.
Das Gespräch, das wir an diesem Abend begannen, setzten wir ein paar Wochen später bei Dieter Mützelburg zu Hause fort. Er hatte mich eingeladen. Diese Offenheit beeindruckte mich. Wir sprachen über Fragen des Sozialismus und über die Weimarer Republik.
Für das Gespräch hatte ich mich mit historischen Schriften des „Nationalrevolutionärs“ Ernst Niekisch sowie der Kommunisten Wolffheim und Laufenberg – auf die ich erst kurz vorher gestoßen war – bewaffnet. Dieter Mützelburg schien das meiste schon zu kennen – und stellte fast alles, was ich sagte, in freundlichem Ton in Frage. In den darauffolgenden Monaten begegneten wir uns in Bremen nur noch zwei- oder dreimal bei Demonstrationen oder Kundgebungen.
Viele Jahre später kreuzten sich unsere Wege erneut, ohne dass wir uns begegneten: Ich lebte seit 1977 in West-Berlin und schloss mich früh der „Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz“, dem späteren Landesverband der GRÜNEN, an. Dieter Mützelburg trat in Bremen der „Alternativen Liste“ und danach den GRÜNEN bei. Er gehörte eine Zeitlang dem Bremer Landesvorstand an. Von 2007 bis 2011 war Dieter Mützelburg in Bremen „Staatsrat“ für Finanzen.
Bereitschaft zum Dialog
Obwohl der Kontakt zwischen Dieter Mützelburg und mir nur kurze Zeit bestand, hat mich die Begegnung stark beeindruckt. Ich begriff, wie wichtig es ist, das Gespräch auch mit demjenigen zu suchen, der ganz anderer Meinung ist als man selbst. Nicht mit der Absicht, ihn gleich zu überzeugen, sondern mit dem Wunsch, ihn zu verstehen. Das war eine wichtige Erfahrung.
Diese Erfahrung verdanke ich ausgerechnet einem Menschen, der sich einer Organisation angeschlossen hatte, deren politische Idole (Stalin, Mao Tse-tung, Enver Hodscha) nicht gerade für einen rücksichtsvollen Umgang mit Andersdenkenden bekannt waren. Der KBW hatte keine Bedenken, Machthaber wie Pol-Pot, Kim Il-Sung und Idi Amin zu unterstützen. Wie passte das zu der Person, deren Verhalten mich so beeindruckte? Zum Glück verhalten sich die Menschen in der Praxis oft anders als in der Theorie. Sagt der Habitus eines Menschen vielleicht mehr aus als alle politischen Bekenntnisse zusammen?
Austritt und Eintritt
Im Herbst 1974 verließ ich die Partei-Jugend und schloss mich einer Organisation an, die sich in die Tradition der linken Leute von rechts stellte: „Sache des Volkes – NRAO“. Deren Zeitung nannte sich „neue zeit“ (Bild). Das heutige Plagiat gleichen Namens hat mit der damaligen Organisation nichts zu tun. Unsere Jugendgruppe zerfiel. Ich begann in einer Fabrik eine Berufsausbildung und gründete mit anderen Kollegen eine gewerkschaftliche Betriebsjugendgruppe und gehörte bald auch dem Ortsjugendausschuss der IG Metall an. Außerdem engagierte ich mich in der Anti-Atombewegung – und liebäugelte kurzzeitig mit der maoistischen ML-Bewegung. Das lag auch an Dieter Mützelburg.
Kommunistischer Bund (KB)
Die Stalin-Verehrung der maoistischen Gruppen stieß mich zwar ab, doch deren Kritik an den politischen Verhältnissen in Osteuropa und die positive Haltung zur deutschen Einheit imponierten mir. In der Stadt, in der ich wohnte, war auch der KBW stark vertreten. An dessen Veranstaltungen nahm ich eine Zeitlang regelmäßig teil. Das führte zu Konflikten zwischen dem KBW und dem „Kommunistischen Bund“ (KB). Trotz des ähnlichen Namens unterschieden sich die beiden Organisation ganz erheblich.
Der KB witterte überall „Faschisten“. Auch dort, wo keine waren. Diese Hysterie war dem KBW fremd. In anderer Beziehung unterschied sich der KB jedoch positiv von den meisten anderen K-Gruppen. Die als „Antizionismus“ verbrämte Kritik am Staat Israel, die dessen Existenzrecht grundsätzlich in Frage stellte, machte der KB nicht mit. Der KB war vor allem in Norddeutschland stark vertreten. Er hatte damals etwa 2.500 Mitglieder, davon allein in Hamburg 1.500. Der Sympathisantenkreis umfasste mehr als 20.000 Menschen. Die KB-Leute übten zwar Kritik an der DKP und der DDR, standen aber im Zweifel an deren Seite.
Nach 1990 wechselten viele frühere KB-Mitglieder zur PDS (heute „Die Linke“). Einige von ihnen hatten zwischenzeitlich schon bei den GRÜNEN ihr Unwesen getrieben. In der PDS wurden die Sektierer aus dem Westen als „Modernisierer“ wahrgenommen. Das ging zu Lasten des aus eigener Kraft begonnenen Reformprozesses in der PDS. Ausgerechnet die Partei, die im Prozess der staatlichen Vereinigung einen westdeutschen Kolonialismus beklagte, ließ sich bereitwillig von westlichen „Linken“ kolonisieren. Der „nationale Selbsthass“, der heute in Teilen der Linkspartei anzutreffen ist, hat hier seine Ursache.
Im Vergleich zu der Mehrzahl der KB-Leute waren die ehemaligen DKP-Mitglieder, die sich nach 1990 der PDS bzw. der Partei „Die Linke“ anschlossen, oft Musterbeispiele politischer Aufgeklärtheit. Der Mauerfall von 1989 und das Scheitern der DDR hatte bei vielen von ihnen – ebenso wie bei vielen Mitgliedern der SED – die Bereitschaft ausgelöst, bisherige Gewissheiten in Frage zu stellen. So waren Freiräume für neue Debatten entstanden. Der durchschnittliche KB-Ideologe sah dagegen keine Notwendigkeit zur Selbstkritik. Und wenn doch, reagierte er oft wie ein Konvertit, der die bisherige Sekte verlässt, um sich einer neuen Sekte zuzuwenden. Der Publizist Jürgen Elsässer ist dafür ein Beispiel.
Ein Stück aus dem Tollhaus
In meiner Heimatstadt geriet ich regelmäßig mit KB-Leuten in Streit – bis hin zur körperlichen Auseinandersetzung. Manchmal standen KBW-Mitglieder mir zur Seite. Das empörte den KB. Die Empörung steigerte sich, als ich mich 1976 an den Protesten gegen eine Fahrpreiserhöhung im ÖPNV beteiligte. Das Megaphon, dass die Polizei mir abnehmen wollte, verteidigte ich mit Händen und Füßen. Am Ende wurde ich gemeinsam mit einigen anderen Teilnehmern von der Polizei in Gewahrsam genommen. Daraufhin zogen die Demonstranten zum Polizeipräsidium. Als die Polizei uns gehen ließ, wurden wir von ihnen jubelnd empfangen. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Auf Vorschlag des KBW-Ortssekretärs kletterten wir auf eine Mauer, so dass jeder von uns kurz zu den Demonstranten sprechen konnte. Auch ich sollte ein paar Worte sagen. Aber das fiel mir schwer.
Die Anhänger des KB schäumten vor Wut – und inszenierten wenige Tage später ein Stück aus dem Tollhaus: in der ganzen Stadt – vor Schulen, an der Uni und bei politischen Veranstaltungen – wurden Flugblätter verteilt, in denen der KB den KBW aufforderte, sich „öffentlich von Wehl zu distanzieren“. Der Mann, der presserechtlich dafür verantwortlich war, lebte in Bremen. Ob er das Flugblatt überhaupt kannte? Kürzlich stieß ich im Internet auf ihn. Er ist pensionierter Lehrer, der sich für die Partei „Die Linke“ engagiert. Im Jahr 2017 war er deren Bundestagskandidat. Er sieht sympathisch aus. Ob er das, was er als KB-Mitglied damals politisch vertrat, heute noch uneingeschränkt richtig findet?
Noch ein Stück aus dem Tollhaus
Der Verfassungsschutz wird häufig mit dem Staatsschutz in einen Topf geworfen, obwohl es sich um zwei völlig unterschiedliche Behörden handelt. Der Staatsschutz ist eine Behörde der Kriminalpolizei und soll Straftaten verfolgen, die politisch motiviert sind. Der Verfassungsschutz ist ein Geheimdienst ohne polizeiliche Befugnisse. Gemeinsam ist beiden Behörden jedoch, dass sie die politisch motivierten Straftaten in „links“ und „rechts“ einteilen – und den jeweiligen Ressorts zuordnen. Das ist ausgesprochen schwierig, wenn es sich um mehrere Täter handelt, und die Täter nicht denselben politischen Hintergrund haben.
Das zeigte sich, als ich mit einem Anhänger der anarcho-syndikalistischen Bewegung – er gehörte später zum Gründungskreis der „Freien Arbeiter-Union“ (FAU) – illegal Plakate verklebte. Wir wurden während der Klebeaktion von der Polizei festgenommen und der Politischen Polizei zugeführt. Deren Mitarbeiter staunten, als sie sahen, wer ihnen ins Netz gegangen war. Mein Begleiter und ich galten als Anhänger entgegengesetzter politischer Richtungen. Wem sollten sie die Tat zuordnen? Die Plakate ließen keinen sicheren Rückschluss zu. Am Ende wurde der Vorgang wohl zweimal bearbeitet. Wir hatten mit unserer lächerlichen Aktion nicht nur für Verwirrung, sondern auch für doppelten Aufwand gesorgt. Staatsgefährdend war das nicht. Eher ein weiteres Stück aus dem Tollhaus.
„Nationalrevolutionär“ Ernst Niekisch
Verfolgte ich eine demokratiefeindliche Strategie, als ich den Kontakt zu ML-Gruppen und Anarcho-Syndikalisten suchte? Nein, das hätte meinem politischen Selbstverständnis widersprochen. Ich war in der Gewerkschaft aktiv, verfolgte basisdemokratische Ideale und hatte mich einer Organisation angeschlossen, die sich auf den früheren Sozialdemokraten und späteren „Nationalrevolutionär“ Ernst Niekisch berief. Wir waren „linke Leute von rechts“ und „rechte Leute von links“. Aber das war keine „Querfront“ der Antidemokraten. Allerdings ist das politische Vermächtnis von Ernst Niekisch nicht unproblematisch. Es gibt Rechtsextremisten, die sich mit seinem Namen schmücken.
Ernst Niekisch hatte 1932 in seiner Schrift: „Hitler, ein deutsches Verhängnis“ vor den Nazis gewarnt. Er gab nach 1933 noch eine Zeitlang seine Zeitschrift „Widerstand“ heraus. Gleichzeitig bemühte er sich um eine Koalition des Widerstands von „links“ bis „rechts“. Der marxistische Philosoph Wolfgang Abendroth nannte Ernst Niekisch einen „furchtlosen Streiter gegen die Barbarei“. Jürgen Seifert meinte, dass ohne den von Niekisch geprägten Geist das Spionagenetzwerk Rote Kapelle nicht denkbar gewesen wäre.
Ernst Niekisch war 1937 von den Nazis verhaftet und in das Zuchthaus Brandenburg gesperrt worden. Dort wurde er – fast erblindet – 1945 von sowjetischen Truppen befreit. Er spielte zunächst in der DDR bzw. SED eine Rolle, wandte sich aber dann enttäuscht von dort ab und starb 1967 – politisch isoliert – in West-Berlin. Im Vergleich zu manchen Säulenheiligen der ML-Bewegung war Niekisch ein Leuchtturm demokratischer Gesinnung. Das ändert nichts daran, dass wir ihn heute kritisch sehen sollten. Ich bewunderte ihn als nationalrevolutionären „Antifaschisten“, der nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Folgen des Versailler Vertrages und nach dem Zweiten Weltkrieg für die deutsche Einheit gekämpft hatte. Seine Lebenserinnerungen hatte ich verschlungen. Manches hatte er wohl geschönt. Aber das ändert nichts an seiner historischen Bedeutung. Die Nazis wussten, dass Ernst Niekisch einer ihrer entschiedensten Gegner war.
Blinde Flecken im Geschichtsverständnis
1979 strahlte das westdeutsche Fernsehen die vierteilige Filmserie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss aus. Die Filme lösten in der Bundesrepublik eine breite Diskussion über den Nationalsozialismus aus – und veränderten das gesellschaftliche Bewusstsein. Danach wurde es üblich, den Massenmord an den europäischen Juden als „Holocaust“ zu bezeichnen.
Davor war der Holocaust – trotz der Auschwitz-Prozesse von 1965 bis 1966 – im gesellschaftlichen Bewusstsein der Bundesrepublik kaum präsent gewesen. Vom Umgang der DDR mit dem Holocaust ganz zu schweigen. Die radikale Linke entwickelte Strategien zur Befreiung der Arbeiterklasse, bekämpfte den US-Imperialismus – und arbeitete sich am Antikommunismus ihrer Eltern ab. Der Holocaust hatte für die radikale Linke kaum eine Bedeutung – allen späteren Legendenbildungen zum Trotz. Im Gegenteil, man entwickelte sogar einen neuen Antisemitismus. Dafür spricht die vorbehaltslose Solidarität mit den arabischen Befreiungsbewegungen, die den israelischen Staat auslöschen wollten.
Und die radikale „Rechte“? Ein Teil von ihnen leugnete den Massenmord. Ein anderer Teil wollte sich erst gar nicht damit befassen: „Der moderne Rechte schaut nach vorn“. Das entsprach der damaligen Philosophie des Wirtschaftswunders. In Wahrheit schauten viele „Rechte“ gern zurück – um zu retten, was auch ihrer Sicht zu retten war. Und heute? Einige „rechte“ Historiker weisen auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs hin, um die „Schuldfrage“ des Kriegsbeginns neu zu beantworten. Aber ihre Argumente ändern nichts an Hitlers Wahn, neuen „Lebensraum“ erobern zu wollen und andere Völker zu versklaven. Das ganze Ausmaß der Verbrechen wurde erst nach der militärischen Kapitulation bekannt. Der moralische Bankrott wurde zur schlimmeren Niederlage.
Anstiftung zu kriminellen Taten
In manchen Situationen ist man besonders froh, Menschen zu kennen, denen man vertrauen kann. Dem V-Mann, der freundlich tat, ohne es zu sein, vertraute ich. Er bot immer wieder seine Hilfe an, kutschierte mich zu verschiedenen Treffen und schrieb bei Versammlungen gern das Protokoll. Das war praktisch für ihn: eine Kopie sandte er gleich an die Behörde. Um die eigene Bedeutung zu erhöhen, machte der V-Mann aus jeder Mücke einen Elefanten. Manchmal ging er mit der Wahrheit wohl noch großzügiger um. Doch das genügte ihm auf Dauer nicht. Er wollte von spektakulären Ereignissen berichten können: von Gefahren, die es noch gar nicht gab.
Aus diesem Grund hatte der V-Mann schon Mitte 1974 begonnen, die Aktivitäten unserer damaligen Gruppe zu kritisieren. Wir sollten nicht nur diskutieren und Flugblätter verteilen, sondern endlich auch einmal etwas „Richtiges“ machen. Was er damit meinte, wurde bald klar. Er schlug vor, ein Loch in die Berliner Mauer zu bomben. Grundsätzlich gefiel mir die Idee, auf solche Weise ein Zeichen für die deutsche Einheit zu setzen. Ich wäre wohl auch bereit gewesen, noch mehr zu tun. Aber was und wie?
Der V-Mann hatte einen Köder ausgelegt – und ich hatte angebissen. Nachdem sich unsere Gruppe im Herbst 1974 aufgelöst hatte, sprach er mich einige Tage später erneut an. Aus dem Algerien-Krieg kenne er einen Waffenhändler, der Plastik-Sprengstoff besorgen könne. Ich war begeistert.
Der Waffenhändler – und ein Großvater
Der Waffenhändler, den der V-Mann aus der Zeit des Algerien-Krieges kannte, hieß Rudolf Arndt. Dessen aktuelle Adresse war zwar nicht bekannt, aber der V-Mann wusste, dass Rudolf Arndt eine Zeitlang in einer Villa in Berlin-Grunewald gewohnt hatte. Ich beschloss, nach West-Berlin zu fahren und mich auf die Suche nach dem Waffenhändler zu begeben. Der V-Mann gab mir einen „Code“ mit auf den Weg. Falls ich in Schwierigkeiten geriet, sollte ich sagen: „Mich schickt der Großvater aus Verden an der Aller.“
Der angebliche „Code“ war vermutlich nur ein blöder Witz des V-Mannes gewesen und hätte im Ernstfall höchstens für Gelächter gesorgt. Damals nahm ich den „Code“ jedoch ernst, so dass meine Abenteuerlust noch mehr stieg. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt war, fühlte ich mich schon wie ein zweiter „James Bond“. Für Selbstzweifel war in meinem Kopf kein Platz.
Am 23. Dezember 1974 fuhr ich per Anhalter nach West-Berlin, um den Waffenhändler zu suchen. Viel Zeit hatte ich nicht. Aufgrund meiner Berufsausbildung mussten die Tage zwischen den Jahren genügen. Ich übernachtete in den Räumen der Organisation, der ich mich neu angeschlossen hatte. Nach einigen Tagen hatte ich den letzten Aufenthaltsort von Rudolf Arndt – eine Pension in Berlin-Wilmersdorf – ausfindig gemacht. Doch ein Erfolg war das nicht, denn Rudolf Arndt war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Wie gefährlich Rudolf Arndt gelebt hatte, ist in dem SPIEGEL-Artikel Bombe in der Blütenstraße nachzulesen.
Silvesterfeier bei der KPD/ML
Am 31. Dezember 1974 fuhr ich von Berlin nach Hamburg, um an der Silvesterfeier der KPD/ML teilzunehmen. Ein Freund hatte mich eingeladen, Im Gegensatz zur KPD (AO) und zum KBW waren in der KPD/ML auch einige „echte“ Arbeiter organisiert. Die KPD/ML stand in Konkurrenz zur KPD (AO) und zum KBW.
Die drei K-Gruppen wetteiferten um die Gunst der chinesischen und albanischen Kommunisten. In Albanien hatte die KPD/ML die Nase vorn. 1974 erkannten die albanischen Kommunisten unter Enver Hoxha die KPD/ML als Bruderpartei an (Bild). Nach Maos Tod im Jahr 1976 dauerte es nicht lange, da war – nach Auffassung der KPD/ML – die VR China kein sozialistisches Land mehr. An der Silvesterfeier der KPD/ML nahm auch Ernst Aust, der Parteivorsitzende, teil. Zu Beginn sang ein Chor der Partei das Lied über Stalin, das ich mehr als befremdlich fand. Doch gleich danach klang ein Lied, mit mit ich nicht gerechnet hätte. Das Deutschlandlied der KPD/ML.
Die ersten zwei Strophen lauten:
„Eine Mauer an der Spree,
eine Grenze von der See
bis nach Thüringen
geht mitten durch das Land.
Schießbefehl und Stacheldraht,
rechts und links ein deutscher Staat.
Auf Prolet, erhebe deine starke Hand.
Refr.: Deutschland, Deutschland,
du sollst frei sein,
sozialistisch und vereint.
Unter Führung der Partei
kämpfen wir und werden frei
erst im deutschen Staat des Proletariats!
Auf dem weiten Erdenrund
stehn im Kampf die Völker und
versetzen mutig ihren Feinden
Schlag für Schlag.
Deutsches Volk nun reih‘ dich ein,
sollst nicht länger Sklave sein!
Greif‘ zur Waffe, um dich selber zu befrei’n:
Refr.: Deutschland, Deutschland …“
Wie wichtig der maoistischen KPD/ML der Kampf für die Einheit Deutschlands war, zeigt eine Dokumentation von 1976: Die Mauer muss weg. Einen Eindruck von den Anhängern der KPD/ML gibt dieses Veranstaltungsvideo aus dem Jahr 1982.
Das Ende des V-Mannes
Am Neujahrstag ging es von Hamburg zurück nach Hause. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Das lag nicht an den Folgen der Silvesternacht, sondern an dem Mann, der mir empfohlen hatte, den Waffenhändler zu suchen. Und der gerne Protokolle schrieb. Von meinen Fneuen politischen Freunden in Berlin und Hamburg hatte ich einiges über den Einsatz von V-Leuten erfahren. War der Mann, der sich mir gegenüber so hilfsbereit gezeigt hatte, auch einer von denen? War er wirklich so freundlich, wie er tat? Es dauerte eine Weile, bis ich zu einem Ergebnis kam. Danach brach ich den Kontakt ab.
Wie berechtigt mein Verdacht gewesen war, und welche Rolle der V-Mann gespielt hatte, erfuhr ich erst nach seiner Enttarnung. Er hatte für den Verfassungsschutz auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig getanzt. Während ich noch nach einem Waffenhändler suchte, der bereits tot war, pflegte er den Kontakt zu noch lebenden Waffenhändlern: Angeblich soll er Neo-Nazis mit Maschinenpistolen und Handgranaten versorgt haben. War er auch auf eigene Rechnung tätig gewesen? Der Verdacht liegt nahe. Dafür spricht auch sein Bericht über meine Berlin-Reise, den er für die Behörde verfasste. Das Ziel der Reise, zum Waffenhändler Arndt Kontakt aufzunehmen, kommt in seinem Bericht – so viel ich weiß – nicht vor. Durfte die Behörde davon nichts wissen? Oder diente der V-Mann mehreren „Herren“ gleichzeitig?
Dem Innenministerium in Hannover ging das Verhalten des V-Mannes am Ende wohl zu weit. Er wurde – noch vor seiner Enttarnung – als V-Mann des Verfassungsschutzes abgeschaltet. Ob dieser V-Mann der einzige V-Mann bzw. Agent war, dem ich damals begegnet war? In dieser Szene wimmelte es von Agenten, die im Auftrag unterschiedlicher Dienste tätig waren. Jeder von ihnen kochte sein eigenes Süppchen, denn kein Dienst offenbarte dem anderen Dienst die eigenen V-Leute. Die Behörden des Bundesländer wussten nichts von den V-Leuten des Bundes und umgekehrt. Dazu kamen die Agenten, die im Dienst der Stasi bzw. der DDR oder anderer Staaten standen. Die DDR gibt es heute nicht mehr. Aber das Problem der V-Leute ist geblieben.
Schutzengel
Manchmal braucht man einen Schutzengel, der einen vor sich selber schützt. Wahrscheinlich war es ein solcher Schutzengel, der mein Misstrauen gegenüber dem V-Mann weckte und mich damit vor mir selber schützte. Dabei hätte es um ein vergleichsweise harmloses Vergehen gehandelt. Die Idee, ein Loch in die damalige Berliner Mauer zu sprengen, war sicherlich nicht besonders intelligent, aber auch nicht ehrenrührig.
Das ändert nichts daran, dass der V-Mann und dessen Agentenführer verwerflich gehandelt hatten. Es ist ein Skandal, wenn der Verfassungsschutz Menschen dazu verleitet, Straftaten zu verüben, die ohne Einflussnahme des Verfassungsschutzes nicht begangen werden würden. Der Skandal ist umso größer, je jünger die Person ist, die durch die Einflussnahme zum Täter wird. Ganz zu schweigen von den Fällen, in denen die Gefährdung von Menschenleben billigend in Kauf genommen wird.
Eine Verfassungsschutzbehörde, die selbst für die Gefahren sorgt, vor denen sie warnt, darf es im demokratischen Rechtsstaat nicht geben. Eine Behörde, die verfassungsfeindliche Kräfte – auch innerhalb politischer Parteien – fördert, greift damit auf unzulässige Weise in den Prozess demokratischer Willensbildung ein. Eine solche Behörde ist ein Fall für den Staatsanwalt.
Schlussbemerkung
Eine staatsbürgerliche Gesinnung kann nur in einer Gesellschaft gedeihen, in der es eine offene Debatte gibt. Das setzt eine Streitkultur voraus, die frei von geheimdienstlicher Beeinflussung und frei von moralisch-religiöser Überheblichkeit ist. Meine eigene Entwicklung verdanke ich auch dieser Streitkultur und der damaligen Bereitschaft, mit Andersdenkenden zu reden.