Ein sanfter Radikaler

Henning Eichberg ist tot. Der deutsch-dänische Historiker, Soziologe und politische Theoretiker starb nach langer und schwerer Krankheit am 22. April 2017 in seiner Wahlheimat Dänemark. Henning Eichberg wurde am 1. Dezember 1942 im schlesischen Schweidnitz (heute Polen) geboren.

Henning Eichberg im Jahr 1990
Henning Eichberg 1990

Als Wissenschaftler war Henning Eichberg weltweit hoch angesehen, doch in Deutschland hatte er ab Ende der 1970er Jahre faktisch Berufsverbot. Um dennoch weiterhin wissenschaftlich arbeiten zu können, beschlossen seine damalige Ehefrau Greta und er zu Beginn der 1980er Jahre, Deutschland zu verlassen – und mit ihren drei Kindern nach Dänemark zu emigrieren. Dort engagierte sich Henning Eichberg in der „linksgrünen“ Socialistisk Folkeparti (SF), die seit 1990 mit der deutschen Linkspartei PDS (heute „Die Linke“) zusammenarbeitet. Mit dem langjährigen PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky stand Henning Eichberg in freundschaftlichem Kontakt.

Begegnung mit Hennung Eichberg

Als ich Henning Eichberg kennenlernte, war ich 17 Jahre alt – und von ihm fasziniert. Auf seine Schriften war ich ein Jahr vorher gestoßen. Henning Eichberg galt in „unseren“ Kreisen als intellektuelle „graue Eminenz“. Darum hatte ich ihn mir viel älter vorgestellt als er tatsächlich war. Nun staunte ich über sein jungenhaftes Gesicht – und den anscheinend fehlenden Bartwuchs. Was mich faszinierte? Henning Eichberg hatte auf viele Themen einen ganz neuen Blick. Bei ihm lösten sich vermeintliche Gegensätze einfach auf. So weckte Henning Eichberg mein Interesse für ganz unterschiedliche Themen: den neuen politischen Regionalismus, die Arbeiterkulturbewegung mit den Arbeiterweihespielen Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts sowie die Ideen des Anarchosyndikalismus – und anderes.

„Volklich“ statt „völkisch“

Henning Eichberg stellte das „Volk“ dem „Staat“ gegenüber – und zeigte den subversiven Gehalt des Volksbegriffs auf. Sein Credo lautete: „Wer nicht von den Völkern sprechen will, soll von den Menschen schweigen“. Dieses „volkliche“ Denken war stark beeinflusst von Martin Buber und N.F.S. Grundtvig. Das zeigte sich in der Debatte um die „Flüchtlingskrise“ ab 2015. Für Henning Eichberg gehörten die Migranten und Flüchtlinge zum Volk dazu. Darin drückte sich sein Verständnis von „Ethnopluralismus“ aus. Der Begriff war zwar von Henning Eichberg geprägt, aber später von vielen missverstanden oder – böswillig? – ins Gegenteil umgedeutet worden. Aber das ist eine andere Geschichte. Mit Tilman Zülch, dem langjährigen Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker, war Henning Eichberg eng verbunden.

Nationalrevolutionäre Phase

Ende 1974 schloss ich mich einer Organisation an, die sich als „nationalrevolutionär“ bezeichnete: „Sache des Volkes/NRAO“ (das heutige Plagiat gleichen Namens hat damit nichts zu tun). Teile des Programms waren von Henning Eichberg formuliert worden. Es ging um die „deutsche Frage“ – und um einiges mehr. So forderten wir u.a. die Abschaffung alliierter Vorbehaltsrechte, solidarisierten uns mit Befreiungsbewegungen in der sogenannten „Dritten Welt“, unterstützten den Kampf der IRA in Nordirland, der Kurden gegen das Regime im Irak – und beteiligten uns an Demonstrationen gegen die „imperialistischen Supermächte“ USA und UdSSR. Politischer Romantizismus war dabei natürlich mit im Spiel.

1978 heirateten meine Freundin und ich. Die Feier fand in der Wohnung von Henning Eichberg und seiner Frau Greta in Murrhardt (Baden-Württemberg) statt. Henning Eichberg war einer der beiden Trauzeugen. Der zweite Trauzeuge war Georgwilhelm Burre, ein Kämpfer für die sozialpolitischen Interessen der Künstler.

Exkurs: Georgwilhelm Burre

Georgwilhelm Burre war Geschäftsführer des Paul-Klinger-Künstlersozialwerks. Er setzte sich dafür ein, dass die „freien“ Schauspieler und andere Künstler unter dem Schirm der gesetzlichen Sozialversicherung Platz fanden. Damit wurde er zu einem wichtigen Wegbereiter der heutigen gesetzlichen Künstlersozialkasse. Georgwilhelm Burre kam aus der DDR. Er war in Bautzen inhaftiert gewesen und danach in die Bundesrepublik geflohen. Von kommunistischen Ideen hatte er die Nase voll. Er schloss sich früh der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) an, die im Jahr 1964 gegründet worden war. Im Jahr 1972 verließ Georgwilhelm Burre die Partei, um gemeinsam mit Henning Eichberg und anderen die „Aktion Neue Rechte“ (ANR) ins Leben zu rufen. Georgwilhelm Burre wurde deren Generalsekretär. Zu dieser Zeit trat ich der Jugendorganisation der Partei bei. Nachdem die ANR bald darauf an ihren inneren Widersprüchen zerbrochen war, beteiligten sich Georgwilhelm Burre und Henning Eichberg an der Gründung der „Sache des Volkes/NRAO“. Erneut wurde Georg Willem Burre auch deren Generalsekretär. Im Herbst 1974 schloss auch ich mich dieser Organisation an.

Wer das heute – viele Jahrzehnte später – liest, schüttelt vielleicht den Kopf, weil das alles kaum noch zu verstehen ist. Dazu muss man wissen, dass die NPD der 1960er Jahre eine Partei mit sehr heterogener Anhängerschaft war. In den 1960er Jahren war Adolf von Thadden Vorsitzender dieser Partei gewesen. Dessen Schwester Elisabeth war von den Nazis in Plötzensee hingerichtet worden. Der Bruder Reinold war nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Präsident des Evangelischen Kirchentages.

Das Selbstverständnis der damaligen Parteimitglieder war in der Regel eng verbunden mit dem Wunsch, die Teilung Deutschlands zu überwinden. So kamen in dieser Partei auch Menschen zusammen, die eigentlich nicht zusammen passten, weil sie in anderen wichtigen Fragen entgegengesetzte Auffassungen vertraten. Aber das ist eine andere Geschichte. Mehr dazu in: Verfassungsfeinde.

Freundschaft

Damals wurde Henning Eichberg von mir wie ein „Guru“ verehrt. Aber das wollte er sicherlich nicht sein. Im Gegenteil: Henning Eichberg stellte die eigene Position regelmäßig selbst in Frage. Die Gegenargumente nahm er auf und stimmte ihnen nicht selten sogar zu. Umso größer war dann das Erstaunen, wenn sich im Verlauf der weiteren Diskussion viele dieser Gegenargumente in Luft auflösten. Das war nicht ein rhetorischer „Trick“, sondern Teil seiner Gesprächskultur – und Ausdruck seines offenen Wesens. Umso leichter verlor er bei früheren Weggefährten, von denen er sich politisch entfernt hatte, die Geduld. Das geschah aus tiefer Verbundenheit. Er hätte diese Freunde gerne auf seinem Weg „mitgenommen“.

Entfremdung

1979 verabschiedeten sich Henning Eichberg und ich von der „Sache des Volkes/NRAO“, die sich bald darauf ohnehin auflöste. Henning Eichberg engagierte sich für kurze Zeit im Umfeld der GRÜNEN; ich selbst schloss mich in West-Berlin der Alternativen Liste (AL) – dem späteren Berliner Landesverband der GRÜNEN – an. Durch die Zeitschrift wir selbst, bei der ich bis Ende der 1990er Jahre mitarbeitete, blieben wir noch ein paar Jahre miteinander verbunden, doch dann trennten sich unsere Wege. Das hatte einen privaten und einen politischen Grund. Ich unterstützte damals den Chefredakteur der Zeitung „JUNGE FREIHEIT“, Dieter Stein.

Dieter Stein war damals einer von zwei geschäftsführenden Gesellschaftern der „JUNGEN FREIHEIT“ gewesen. Dem zweiten Gesellschafter traute ich politisch nicht über den Weg. Deshalb half ich Dieter Stein, sich von diesem Gesellschafter zu trennen. Ich hoffte, dass sich die Zeitung dadurch in Richtung der damaligen PDS („DIE LINKE“) öffnen könne und verfasste zu diesem Zweck einige Artikel für die Zeitung. Henning Eichberg warf mir vor, mich auf ein „rechtsreaktionäres“ Blatt eingelassen zu haben. Der Kontakt brach ab. Erst 17 Jahre später begegneten wir uns wieder. Allerdings nur indirekt: Wir hatten fast zeitgleich Aufsätze zur Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage im OnlineMagazin „Globkult“ veröffentlicht. Deren damaliger Herausgeber war der Historiker Prof. Dr. Peter Brandt. Henning Eichberg plädierte in seinem Aufsatz (Die anderen und wir selbst) für einen „Willkommens-Nationalismus“. In meinem Aufsatz ging es um rassistische Aussagen und um Defizite in der Flüchtlings-Debatte (Sind wir selbst ein Integrationshindernis?). In „Globkult“ kamen Henning Eichberg und ich uns wieder etwas näher.

Gemeinsamer Freund

Peter Brandt und Henning Eichberg hatten sich 1980 in meiner Wohnung in West-Berlin kennengelernt – und pflegten seitdem regelmäßig den Gedankenaustausch. Peter Brandt hat im Magazin Globkult das Lebenswerk dieses ungewöhnlichen Wissenschaftlers und politischen Theoretikers gewürdigt und darauf hingewiesen, wie sehr Henning Eichberg von seiner späteren Ehefrau Kirsten Kaya Roessler gestützt worden war (Peter Brandt: Nachruf auf den originellen Querdenker Henning Eichberg).

Unverstanden

In Deutschland blieb der politische Theoretiker Henning Eichberg weitgehend unverstanden – und konnte deshalb umso leichter politisch diffamiert werden. Von Teilen der Öffentlichkeit wurde er bis zuletzt unter Generalverdacht gestellt. Wenn man weiß, wie verletzbar Henning Eichberg war, ahnt man, wie schmerzhaft die Verleumdungen, denen er bis zum Schluss in Deutschland ausgesetzt war, für ihn gewesen sein müssen. Umso mehr war er von der demokratischen Kultur Dänemarks fasziniert.

Henning Eichberg war ein Radikaler – aber ein ganz sanfter.