Graf-Anton-Günther-Schule

Aufgewachsen bin ich in einer Familie mit zwei Geschwistern. Unsere Eltern gehörten zu den mehr als 12 Mio. Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren hatten. Sie lernten sich in einem Kriegsgefangenen-Lager kennen. Nach ihrer Entlassung wurde ihnen die Stadt Oldenburg i.O. als Wohnort zugewiesen. Unsere Eltern erhielten ein Zimmer im Souterrain eines Hauses in der Bachstraße, das nur einen Steinwurf entfernt war von dem Grundstück, auf dem einige Jahre später ein neues Gebäude für die Graf-Anton-Günther-Schule (GAG) errichtet wurde.

Nachkriegszeit

In den Jahren von 1946 bis 1950 mussten sich unsere Eltern den Wohnraum mit fremden Personen teilen, die ebenfalls ihr Zuhause verloren hatten. Ausgerechnet in dieser Zeit, am 20. Juli 1948, kam mein Bruder Burkhard zur Welt. Er soll als Säugling kaum geschrien haben. Davon berichteten unsere Eltern und deren Mitbewohner später voller Dankbarkeit.

Durch die vielen Flüchtlinge und Vertriebenen erhöhte sich zwischen 1945 und 1950 die Einwohnerzahl der Stadt Oldenburg um rund 30 Prozent. Die meisten Menschen, die zugezogen waren, stammten aus den damaligen ostdeutschen Provinzen, vor allem aus Hinterpommern, Ostpreußen und Schlesien. Eine Minderheit aus dem Baltikum. Da es an Wohnraum fehlte, entstand am Stadtrand ein Neubau-Gebiet. Dort lebte die Familie Wehl ab 1958. Wir waren jetzt zu fünft. Meine Schwester Marianne und ich waren hinzu gekommen. Für die katholische und die evangelische Bevölkerung waren in einem Neubau-Gebiet im Stadtteil Kreyenbrück getrennte Volksschulen erbaut worden. Die Gesellschaft war konfessionell noch stark gespalten. Bei einem Brautpaar, das unterschiedlichen Konfessionen angehörte, sprach man von einer „Misch-Ehe“.

Volksschule Kreyenbrück

Eingeschult wurde ich 1963 in der Evangelischen Volksschule Kreyenbrück. Der „Ernst des Lebens“ begann für die neuen Schüler mit einem Gottesdienst in der Evangelischen Kirche. Für mich allerdings mit Verspätung. Pastor Bernd Meyberg, ein ehemaliger Jagdflieger, predigte bereits, als meine Mutter und ich die Kirche betraten. Unzählige Augen musterten uns, die „Nachzügler“. Nach dem Gottesdienst ging es zur Schule. Der Unterricht fand von Montag bis Sonnabend statt. Am Sonntag folgte der Kinder-Gottesdienst.

An der Evangelischen Volksschule unterrichtete ein junger Lehrer, der seine Unerfahrenheit anscheinend durch Härte ausgleichen wollte. Einzelne Schüler hatten unter ihm besonders stark zu leiden. Einmal ließ der Lehrer – es war in der vierten Klasse – das schwere, meterlange Holzlineal, das für den Gebrauch an der Schultafel bestimmt war, so lange auf den Hosenboden eines Schülers niedersausen, bis es brach. Das geschah vor den Augen der Mitschüler. Jeder von ihnen hatte Mitleid, aber niemand war empört. Der bestrafte Schüler war neun Jahre alt. Kinder mit Schlägen – auch unter Einsatz von Stöcken, Gürteln oder anderen Hilfsmitteln – zu „züchtigen“, war damals nicht ungewöhnlich. Das kannten viele Schüler aus der eigenen Familie. Ich erinnere mich an eine gemeinschaftlich begangene Tat, für die jeder von uns zu Hause eine Tracht Prügel erhalten hatte. Am nächsten Morgen trafen wir uns auf der Schultoilette, um bei heruntergelassenen Hosen festzustellen, wer am meisten abbekommen hatte.

Die Misshandlung des neunjährigen Schülers war kein Einzelfall. Der junge Lehrer wurde häufiger gewalttätig. Doch das hatte für ihn keine Folgen. Der junge Lehrer war bei den Eltern beliebt. Er spielte sonntags in der Kirche die Orgel, leitete den Kirchenchor und organisierte Chorreisen, von denen die Teilnehmer schwärmten.

Graf Anton-Günther-Schule (GAG)

Graf Anton Günther mit Pferd Kranich

Im Schuljahr 1969 wechselten meine Klassenkameraden auf die neu erbaute Hauptschule am Sperberweg. Ich selbst besuchte ab jetzt die Graf-Anton-Günther-Schule („GAG“) in der Schleusenstraße, wenige Fußschritte vom Küstenkanal entfernt. Schulträger war nicht die Stadt, sondern der Landkreis Oldenburg. Die Schule nahm bevorzugt Schüler auf, die außerhalb der Stadt wohnten und entsprechend lange Schulwege hatten.

Gymnasium für Bauernkinder?

Der weite Schulweg der auswärts wohnenden Schüler war wohl auch der Grund gewesen, warum die Schule erst ab der siebten Klasse begann („Gymnasium in Kurzform“). Einige wenige Schüler wohnten wegen der langen Entfernung in dem – heute nicht mehr existierenden – Schülerheim an der Ofener Straße. Auffallend viele Schüler entstammten den Bauernfamilien der umliegenden Dörfer. Deshalb wurde die Graf-Anton-Günther-Schule gelegentlich auch als „Bauern-Gymnasium“ bezeichnet.

Die Lehrer der GAG

An die ehemaligen Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule denke ich gerne zurück. Sie waren interessante und starke Persönlichkeiten. Einige sehe ich heute noch deutlich vor mir: Helene Müller (Mathematik), Heinz Kanngießer, den Gründer des Oldenburger Jugendchores (Musik), Ulrich Willenbücher (Deutsch), Karl Vogt (Kunst), Karl Scheller (Sport), der im Krieg aus einem Gefangenenlager geflohene Dr. Werner Storkebaum (Erdkunde), der unter erhöhtem Blutdruck leidende Bodo Semmler (Latein), die Lehrer Voget (Sport und Gemeinschaftskunde), Wieting (Physik), Heise, Klaus Ohlsen, Sternagel, Lothar Schwatlo, die Lehrerinnen Ilsemarie Primke (Biologie), Baltrusch und Hippert sowie die früheren Schulleiter Hans Dumkow und Günther Solling. Der Name des Assessors, der im Jahr 1969 das Fach Gemeinschaftskunde unterrichtete, ist mir leider entfallen. Er trug eine Brille. Hieß er Steinmann oder Steinberg? Auch ihn habe ich in guter Erinnerung.

Die Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule lehrten nicht nur staatsbürgerliches Engagement, sie lebten es auch vor. Im Sommer 1974 bezog ein großer Teil von ihnen – gemeinsam mit anderen Oldenburger Lehrern – öffentlich Stellung. Sie protestierten mit einer selbstfinanzierten Anzeige, die in der Oldenburger Nordwest-Zeitung erschien, gegen die Bildungspolitik der SPD. Die Lehrer kündigten an, bei der bevorstehenden Landtagswahl nicht (mehr) für die SPD und deren Kandidaten stimmen zu wollen.

Lehrer Wolfgang Schieke

Ein Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule ragt in meiner Erinnerung besonders heraus: Oberstudienrat Wolfgang Schieke (Deutsch und Erdkunde). Dieser Lehrer steckte voller Energie. Der Lehrer Wolfgang Schieke wusste die Schüler zu begeistern. Den Erdkunde-Unterricht lockerte er auf, indem er uns die dazu passenden Lichtbilder seiner Urlaubsreisen zeigte, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau Edith Schieke durchgeführt hatte. Die beiden fuhren mit ihrem Volkswagen, einem „Käfer“, in die unterschiedlichen Länder Europas. Als auf einem Bild einer Skandinavienreise seine Ehefrau etwas verdeckt auf dem Sitz des Volkswagens zu sehen war, löste dies bei uns Schülern großes Interesse aus. Wir wollten unbedingt mehr erfahren. Auch daran kann man ablesen, wie sehr wir diesen Lehrer verehrten. Uns interessierte alles an dieser Person. Auch die Ehefrau.

Wolfgang Schieke war ein Freigeist und wurde von seinen Kollegen als „Nonkonformist“ anerkannt. Den Begriff kannte ich als Zwölfjähriger noch nicht, aber auch ich spürte, dass dieser Lehrer anders war als andere. Wolfgang Schieke war einst selbst Schüler der Graf-Anton-Günther-Schule gewesen. Im Jahr 1954 hatte er das Abitur bestanden. Wolfgang Schieke starb Anfang 1997. Er wurde nur 63 Jahre alt.

Dem Lehrer Wolfgang Schieke habe ich es zu verdanken, dass ich von der Graf-Anton-Günther-Schule als Schüler aufgenommen wurde. Da ich keine überragenden Noten vorweisen konnte, wurde ich im Frühjahr 1968 gemeinsam mit einem anderen Schüler von Wolfgang Schieke geprüft. Wolfgang Schieke nahm sich dafür zwei Tage Zeit. Aufgrund seiner Fürsprache erhielt ich die Zulassung. Dem jungen Lehrer auf der Volksschule (s.o.), der manchmal zu besonderer Härte neigte, schien das nicht gefallen zu haben. Er ließ mich seine Abneigung von nun an noch mehr als bisher spüren.

Wolfgang Schieke war ein warmherziger und den Schülern zugewandter Mensch. Er war bei allen Schülern beliebt. Doch manchmal konnte Wolfgang Schieke auch überraschend zynisch reagieren. Hatte das vielleicht etwas mit seiner Familiengeschichte zu tun?

Wolfgang Schieke stammte aus Naumburg a.d.Saale. Sein Vater war ebenfalls Lehrer gewesen. In der Zeit des „Dritten Reichs“ hatte der Vater innerhalb der NSDAP auf Kreisebene die Funktion eines Propagandaleiters (1935) und des Amtsleiters für Erziehung (1940) ausgeübt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Naumburg in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Von dort flüchtet die Familie Schieke nach Oldenburg i.O. Die Stadt gehörte nun zur britischen Besatzungszone. War der Sohn auch wegen der politischen Verstrickung seines Vaters zu einem Freigeist geworden, der hin und wieder zum Zyniker werden konnte?

Die Lehrer und das Hotel Wieting

Wenn sich die Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule im kleinen Kreis vertraulich miteinander unterhalten wollten, taten sie das in der Regel nicht im Lehrerzimmer der Schule, sondern konspirativ im Hotel Wieting.

Ehemalige Hotel-Fassade

Das Hotel Wieting liegt nur wenige Schritte von der Graf-Anton-Günther-Schule entfernt an der Straße, die zur Cäcilien-Hubbrücke führt. Hier fühlten sich die Gesprächspartner vor Mithörern sicher. Das erfuhr ich Jahrzehnte später von der Senior-Chefin des Hotels Wieting. So oft ich meine alte Heimatstadt Oldenburg besuche und im Hotel Wieting übernachte, sehe ich im Geist die ehemaligen Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule (GAG) vor mir, wie sie in einer Ecke des Gastraums sitzen und in ein Gespräch vertieft sind.

Exkurs I: Hindenburgschule (Herbart-Gymnasium)

Die Graf-Anton-Günther-Schule stand Knaben und Mädchen offen. War die Koedukation der Grund, warum hier ein freundlicherer Umgangston herrschte als an Schulen mit nur männlichen Schülern?

Auf der Hindenburg-Schule (heute: „Herbart-Gymnasium“), die damals nur Knaben aufnahm, ging es jedenfalls anders zu. Das berichtete mein inzwischen verstorbenen Bruder, der damals die Hindenburg-Schule besuchte. Er und seine Mitschüler wurden im Unterricht nicht mit dem Vornamen, sondern mit dem Familiennamen angesprochen. Für die zehnjährigen Steppkes der fünften Klasse mag das ein Kulturschock gewesen sein („Wehl, nach vorne zur Tafel“). Hatte der Geist kaiserlicher bzw. preußischer Kadetten-Anstalten, die nach dem Ersten Weltkrieg auf Anordnung der Siegermächte aufgelöst worden waren, auf der Hindenburg-Schule überlebt?

Die ehemaligen Schüler der Hindenburg-Schule bewerten ihre Schulzeit unterschiedlich. Das zeigt die Debatte, die im Jahr 2021 in die Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ) geführt wurde. Einige „Ehemalige“ beschrieben ihre Zeit auf der Hindenburg-Schule als eine Zeit des Grauens: Die leidenden Schüler der Hindenburg-Schule (NWZ vom 26.10.2021). Andere „Ehemalige“ widersprachen und zeichneten ein differenziertes Bild: Sie lobten die emphatischen und engagierten Lehrer, die es auch schon in den 1950er und 1960er Jahren an der Hindenburg-Schule gegeben haben soll: Erinnerungen an eine gute Schulzeit (NWZ vom 09.11.2021). Lehrer wie bspw. Rolf Pottebaum und Enno Meyer wurden genannt. Auch der spätere CDU Politiker Werner Broll gehört wohl zu der Riege der Lehrer, an die sich viele ehemalige Schüler der Hindenburg-Schule heute noch gerne erinnern.

Exkurs II: „Alltags-Anarchist“ Klaus Pu Schröder

An dieser Stelle will ich einen Menschen würdigen, der die Graf-Anton-Günther-Schule (GAG) viele Jahre vor mir besucht und seine Schulzeit – im Gegensatz zu mir – erfolgreich abgeschlossen hat. Es handelt sich um den Oldenburger Anarcho-Syndikalisten und selbsternannten „Alltags-AnarchistenKlaus „Pu“ Schröder („Anarchie heißt nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft“). Nach dem Abitur hatte Klaus „Pu“ Schröder eine Zeitlang im Hamburger Hafen gearbeitet, doch die längste Zeit seines Berufslebens war er als Tischler, der Bücherregale baute, und als Buchhändler bzw. Antiquar tätig gewesen.

Klaus „Pu“ Schröder hat sich immer wieder für die Interessen der Schwächsten, insbesondere für die Rechte der Jugendlichen und Obdachlosen, eingesetzt. Das ist einer der Gründe, warum sein freundliches Gesicht in Oldenburg „stadtbekannt“ ist. Jedesmal, wenn ich mich in meiner alten Heimatstadt Oldenburg aufhalte und zufällig auf Klaus „Pu“ Schröder stoße, freue ich mich. Mit Klaus „Pu“ Schröder, dem „Alltags-Anarchisten“, befindet man sich in guter Gesellschaft.

Von der Schule zum Hafen

Trotz der großartigen Lehrer, die an der Graf-Anton-Günther-Schule unterrichteten, war ich vom Unterricht gelangweilt. Die Schule musste ich nach der neunten Klasse wegen ungenügender Leistungen verlassen. Da ich nicht einmal den Hauptschul-Abschluss erreicht hatte, erhielt ich nur ein Abgangszeugnis. Aber das war mir egal. In der Welt, in der ich leben wollte, kam es darauf nicht an. Davon war ich überzeugt.

Die Welt, nach der ich mich sehnte, war die Welt des Hafens und des Milieus, das damit verbunden war. Diese Welt hatte ich Anfang 1973 oberflächlich kennengelernt, als ich erstmals in einem der Lager- und Umschlagbetriebe, die im Oldenburger Stadthafen ansässig waren, gearbeitet hatte. Nachdem ich die Schule verlassen hatte, lernte ich diese Welt etwas genauer kennen. Mehr in: Oldenburger Hafenromantik.