Oldenburger Hafenromantik

Früher war der Oldenburger Stadthafen für mich ein Ort der Sehnsucht. Doch das ist lange her. Wenn ich den alten Stadthafen heute aufsuche, ist von dem, was mich einst faszinierte, nichts mehr zu spüren. Die Kräne und Speichergebäude, die das Bild des alten Stadthafens lange Zeit prägten, sind seit Beginn der 1980er Jahre verschwunden. Nur die Kaimauer, auf der ich in den 1970er Jahren oft saß oder stand, ist noch erhalten. Sie erinnert mich daran, wie es hier früher zuging. Mit dem Wegzug der Lager- und Umschlagbetriebe ging auch das Milieu, das im Umfeld des alten Stadthafens entstanden war, verloren.

Dieses Milieu lernte ich kennen, als ich in den 1970er Jahren als Tagelöhner im Hafen arbeitete. An meine Arbeitskollegen und die Menschen, denen ich im Umfeld des Hafens begegnete, denke ich gerne zurück. Viele von ihnen hatten das Herz auf dem rechten Fleck. Von ihnen will ich hier berichten.

Hans Albers & Große Freiheit

Als Schüler träumte ich davon, zur See zu fahren. Das lag auch an den Liedern von Hans Albers („Nimm mich mit, Kapitän“), Lale Andersen („Blaue Nacht am Hafen“) und Freddy Quinn („Junge, komm bald wieder“), die ich bereits als Kind gern gehört hatte – und die mich noch heute anrühren. Filme wie der UFA-Klassiker „Große Freiheit Nr. 7” (mit Hans Albers) verstärkten meine Sehnsucht.

Die romantische Vorstellung von der Seefahrt und allem, was damit zusammenhängt, trieb mich in meiner Heimatstadt immer wieder zum damaligen Stadthafen mit den Lagerhäusern.

Hafen inmitten der Stadt

Der Oldenburger Hafen ist sowohl ein Binnen- als auch ein Seehafen, denn Oldenburg ist über den Küstenkanal mit dem Rhein und über die Hunte mit der Nordsee verbunden. Deshalb können in Oldenburg sowohl Binnenschiffe als auch kleinere Seeschiffe („Kümos“) anlegen. Der Stadthafen wird in Oldenburg als „Stau“ bezeichnet. So heißt auch die Straße, die das ehemalige Gebiet der Lagerhäuser rund um den Hafen umschließt.

In meiner Jugendzeit wurden in dem alten Stadthafen Waren und Güter „gestaut“. Heute staut sich im Stadthafen nur noch das Wasser aus Hunte und Küstenkanal. Die alten Speicher aus Backstein und die nach dem Krieg errichteten Lagergebäude gibt es nicht mehr. Sie wurden abgerissen und durch langweilige Büro- und Wohngebäude mit glatter Fassade ersetzt. Güter und Waren werden heute nur noch im östlichen Teil des (Industrie-)Hafens, der weiter ausgebaut wurde, umgeschlagen. Dort stehen die Kräne, die einst im alten Stadthafen an der Hafenstraße standen. Die Hafenstraße wurde in „Hafenpromenade“ umbenannt.

Im Frühjahr 1973 arbeitete ich erstmals in einem der Umschlagbetriebe mit. Es handelte sich um eine Niederlassung der „MIDGARD Deutsche Seeverkehrs-AG“, die bald danach als „RHENUS-MIDGARD“ firmierte. Deren Lagerhäuser befanden sich an der Hafenstraße und Güterstraße. Damals war ich noch Schüler. Wenige Monate später – im Sommer 1973 – musste ich die Schule verlassen. Mehr dazu unter: Graf-Anton-Günther-Schule.

Arbeit im Hafen

Als ich die Schule verließ, hatte ich nicht einmal den Hauptschulabschluss erreicht. Aber das war mir egal. In der Welt, in der ich leben wollte, kam es darauf nicht an. Das glaubte ich jedenfalls. Die Welt der Stadthafens und des damit verbundenen Milieus kannte ich bisher nur oberflächlich. Nun lernte ich diese Welt etwas genauer kennen.

Die jüngeren Hafenarbeiter, die bei „RHENUS-MIDGARD“ Umschlagarbeiten ausführten, waren in der Regel Tagelöhner. Der Zeitlohn betrug 5,27 DM brutto pro Stunde bzw. 42,16 DM brutto pro Tag (bei acht Arbeitsstunden zzgl. Pausen). Davon wurden aufgrund der gesetzlichen Abzüge rund 30 DM netto ausgezahlt. Das war schon damals wenig. Mehr verdienen konnte man nur, wenn nach Leistung (Akkord) entlohnt wurde.

Angangs wurde ich im Papierlager eingesetzt. Es befand sich in einer ehemaligen Scheune an der Güterstraße, Ecke Stau. Gleich daneben stand ein dreigeschössiger Neubau mit einer Backstein- bzw. Klinkerfassade. Es handelte sich um ein Bordell, das mit dem Begriff „EROS-CENTER“ um Kunden warb. Das Bordell war erst im Jahr zuvor – Anfang 1972 – eröffnet worden. Dort verfügten 20 Frauen über ein Zimmer. Einige dieser Frauen waren zuvor in Hamburg, Hannover oder Bremen tätig gewesen. Das Bordell verfügte über einen „Kontakthof“, der von der Straße aus nicht einsehbar war. Das erleichterte den Frauen die Geschäftsanbahnung mit den Freiern.

Wer im Papierlager tätig war, hatte bald ein nachbarschaftliches Verhältnis zu den Frauen. Einer meiner Kollegen im Papierlager hieß Peter Staschen. Er war gelernter Tankwart. Wir hatten gemeinsam die Aufgabe, Papierrollen in LKWs zu verladen. Das Lager unterstand Hans R., einem ehemaligen Knacki, mit dem ich mich anfangs nicht verstand. Das änderte sich erst, nachdem ich zu den Lagerhäusern an der Hafenstraße versetzt worden war. Im Hafen legten Schiffe an, die Kunstdünger und Getreidemehl geladen hatten. Im Herbst und Winter legten auch Schiffe an, die Fracht aufnahmen. Sie waren mit Holz aus den umliegenden Wäldern zu beladen. Das Holz war für Skandinavien bestimmt.

Beim Verladen der Baumstämme war auf die Stabilität zu achten, um das Schiff nicht zu gefährden. Bei schlechter Ladequalität war die Gefahr groß, dass das Schiff kentern oder die Fracht verlieren würde. Jeder Baumstamm wurde von jeweils zwei Männern mit Hilfe kleiner Spitzhacken in die richtige Position gezogen. Die Spitzhacke musste kräftig eingeschlagen werden, damit sie nicht aus dem Holz herausrutschte. Andernfalls konnte man beim Ziehen eines Baumstammes leicht über Bord gehen. Da ich nicht so kräftig war wie meine Kollegen, rutschte meine Spitzhacke manchmal heraus, so dass ich rückwärts fiel. Aber ich hatte Glück. Ich fiel nur auf hinter mir liegende Baumstämme.

Akkordkolonne

Im Akkordlohn konnte man das Dreifache des normalen Stundenlohns verdienen. Deshalb freute ich mich, als mich der Vorarbeiter, Heinz Schönnagel, eines Tages einer Akkordkolonne zuwies. Ein Binnenschiff, das 200 t Thomasmehl geladen und gerade angelegt hatte, sollte am selben Tag entladen werden. Die 200 t setzten sich zusammen aus 4.000 Säcken á 50 kg. Doch die Akkordkolonne war nicht vollzählig. Es fehlte ein Mann. Ich sollte ihn ersetzen. Das war zwar nach dem Jugendschutzgesetz nicht zulässig, aber das spielte jetzt keine Rolle. Ich war stolz, dass mir der Vorarbeiter die Arbeit zutraute.

Eine Akkordkolonne bestand aus fünf Männern: zwei im Schiff, zwei auf der Rampe am Waggon und einer, der im Waggon die Sackkarre fuhr. Die beiden Männer im Schiff stapelten jeweils allein drei Reihen mit acht, neun und acht Zentner-Säcken zu einem „Hiev“, der vom Kran auf die Rampe des Waggons befördert wurde. Die Männer auf der Rampe luden jeden der 4.000 Zentner-Säcke zu zweit auf die Karre, die im Waggon vom fünften Mann gefahren und geschickt abgekippt werden musste, damit in jedem Waggon 500 Säcke Platz fanden.

Thomasmehl war zu 50 kg, Getreidemehl zu 60 kg in Papiersäcke verpackt. Unangenehm waren die Plastiksäcke, die Harnstoff-Kristalle enthielten. Sie wogen 60 kg, waren aber wegen der Plastikhaut schwerer zu greifen als die Mehlsäcke. Wenn die Hände mit den Harnkristallen in Kontakt kamen, brannte es auf der Haut. Handschuhe waren keine Lösung. Damit hätte man die Plastiksäcke erst recht nicht greifen können.

Exkurs: Thomasmehl

Thomasmehl war die Ladung, mit der wir es am häufigsten zu tun hatten: ein Abfallprodukt der Eisen- und Stahlerzeugung, das als Düngemittel eingesetzt wurde. Es wird heute kaum noch verwendet. Thomasmehl ist mit Schwermetallen, vor allem Chrom, belastet. Deshalb galten schon damals beim Einsatz von Thomasmehl strenge Schutzvorschriften, wie bspw. das Tragen von Schutzmasken. Doch davon machte bei uns so gut wie niemand Gebrauch. Eine Mske hätte das Atmen – und damit die Arbeit – erschwert.

Meine Kollegen packen Säcke mit Thomasmehl zu einem Hiev. Bild: P. Kreier, 1974

Obwohl wir im Schiff und auf der Rampe beim Verladen durchgehend dem Staub des Thomasmehls ausgesetzt waren, spielten Schutzvorschriften praktisch keine Rolle. Das war wohl auch der Grund, warum unser Kollege Fuzzi (rechts im Bild) eines Tages im Schiffsraum zu ersticken drohte. Sein Hals war so stark geschwollen, dass der Arzt zum Messer griff. Verantwortlich für die Schwellung war angeblich der schlechte Zustand der Zähne gewesen – in Verbindung mit dem Thomasmehl. Dem Kollegen Fuzzi wurden alle Zähne gezogen. Danach sah er wie sein eigener Großvater aus. Das lag am eingefallenen Mund. Nach diesem Vorfall trug Fuzzi im Schiff eine Maske. Aber das blieb die Ausnahme und war nicht von langer Dauer (Bild P. Kreier).

Mein Platz in der Kolonne

Mein Platz in der Kolonne war auf der „Rampe“. Gemeinsam mit einem Kollegen packte ich die Säcke, die der Kran auf der Rampe abgeladen hatte, auf die Sackkarre, die von dem fünften Mann gefahren wurde. Am ersten Tag in der Kolonne machte ich nach dem dritten Waggon (also nach 1.500 Säcken) „schlapp“. Daraufhin reichte mit der Vorarbeiter eine Zigarette: eine »Reval« ohne Filter. Das empfand ich als Ritterschlag. Ich durfte bleiben.

Einige Zeit später wurde ich von den Kollegen „getauft“. Ohne Vorwarnung packten sie mich an Händen und Füßen, um mich bekleidet ins Hafenbecken zu werfen. Als ich triefend nass wieder vor ihnen stand, konnten sie sich vor Lachen kaum halten. Erst jetzt gehörte ich wirklich „dazu“ – obwohl ich in der Akkordkolonne nur der „Ersatzmann“ war.

Schlafen im Lagerschuppen

Der Akkordlohn war schwer verdientes Geld. Umso unbegreiflicher war es, wie einige Hafenarbeiter mit dem Geld, das ihnen als Tagelöhner abends ausgezahlt wurde, umgingen. Manche von ihnen waren schon am nächsten Morgen „blank“. Wer nachts den Weg nicht nach Hause fand oder wegen Mietschulden vorübergehend kein Zuhause (oft nur ein möbliertes Zimmer) hatte, suchte sich seinen Schlafplatz in dem Lagerschuppen, der uns als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand. Pappen dienten als Matratze. Eine Zeitlang gehörte auch ich zu den Schlafgästen – wenn auch aus anderen Gründen.

Die begehrtesten Schlafplätze befanden sich im hinteren, unbeleuchteten Teil des Schuppens. Im Raum davor lagen diejenigen, die weniger privilegiert waren. Sie mussten hinnehmen, von den „Spätheimkehrern“ gestört zu werden. Mein eigener Schlafplatz war direkt neben der Tür.

Badeanstalt an der Huntestraße

Roland Wehl
Alte Städtische Badeanstalt

Den Arbeitern standen im Hafen nur Waschbecken zur Verfügung. Wer sich nicht zu Hause baden oder duschen konnte, suchte am Samstag die alte Städtische Badeanstalt an der Huntestraße auf. Dort gab es Kabinen mit Badewannen. Damals verfügten noch längst nicht alle Wohnungen in Oldenburg über ein Badezimmer. Die Badeanstalt verfügte auch über ein kleines Hallenbad. Darin hatte ich als Kind Schwimmen gelernt. In der Zeit, in der ich die Graf-Anton-Günther-Schule besuchte, fand hier im Winter der Sport- bzw. Schwimmunterricht statt.

Wie schnell man sich an Dreck und Gestank gewöhnen kann, erfuhr ich bei meinem kurzzeitigen Einsatz in einem anderen Umschlagbetrieb, der weiter östlich gelegen war. Dorthin war ich gewechselt, als es bei „RHENUS-MIDGARD“ nichts zu tun gab. In dem neuen Betrieb hatte ich die Aufgabe, Papiersäcke mit Fischmehl zu füllen. Die Papiersäcke band ich an einen Trichter, aus dem das Fischmehl herauslief. Es ging viel Fischmehl „daneben“, so dass ich kniehoch in der stinkenden Masse stand. An einem Abend, an dem ich mit einer Freundin verabredet war, sprühte ich mich vorher kräftig mit einem Deodorant ein. Ich wollte den Geruch des Fischmehls überdecken. Aber das war ein Fehler. Die Kombination von Fischmehl und Parfüm hatte den Gestank für „normale Nasen“ ins Unerträgliche gesteigert. Aber das empfand ich nicht so. Ich selbst hatte mich längst an den Gestank gewöhnt.

Meine Kollegen im Hafen

Meine Kollegen waren alle älter als ich: Peter Staschen, der immer einen Witz auf der Zunge hatte, August Hechler, der vorher als Maurer tätig war und ebenso wie ich für Hans Albers schwärmte, Hans R., der zeitweise das Papierlager leitete, Klaus Schumann, der aus der DDR geflohen war, der zahnlose „Fuzzi“, mein Mitbewohner Rolf O., der später wegen Mordes verurteilt wurde, sowie Erich Salatzkat, Ronny, Willi, die vier Oltmann-Brüder und viele andere, deren Namen ich vergessen habe.

Die Oltmann-Brüder waren „Arbeitsmaschinen“. Einige von ihnen wohnten in Wardenburg, andere in einem der Dörfer, deren Namen mit „-fehn“ enden (Merkmal für Siedlungen im Moor, die einst entwässert worden waren). Die Oltmann-Brüder erschienen nur an Tagen, an denen Schiffe im Akkord zu entladen waren. Der Stundenlohn kam für sie nicht in Frage. Da gingen sie lieber ins Moor, um Torf zu stechen.

Wer bei RHENUS-MIDGARD lange beschäftigt war, konnte vom „Tagelöhner“ zum „Wochenlöhner“ aufsteigen. Für diese war Freitags der Zahltag. Einer dieser „Wochenlöhner“ war der verstorbene Erich Salatzkat. Er wohnte mit seiner Familie im ersten Stock eines Geschäftshauses am Markt 2, gegenüber dem Rathaus. Manchmal lud er mich zu sich nach Hause zum Abendbrot ein. Ich erinnere mich an seine Ehefrau, an mehrere Kinder und an einen Schwiegersohn, der später einen Arbeitsunfall erlitt und eine hohe Entschädigung erhielt, die zum Erwerb eines Hauses genutzt wurde. Ein anderer Wochenlöhner, an den ich mich lebhaft erinnere, war der ebenfalls verstorbene Karl. Er hatte ein Glasauge und verwaltete das „Giftlager“, das sich im Kellergewölbe eines Speichergebäudes befand. Karl besaß ein Pony und eine kleine Kutsche, in die er sich nach heftigem Alkoholgenuss fallen ließ. Das Pony brachte den Besitzer selbständig nach Hause.

Im Hafen waren auch viele Menschen tätig, deren Leben aus unterschiedlichen Gründen nicht gerade verlaufen war. Das zeigen beispielhaft die Lebensläufe der vier Männer, die ich nachfolgend beschreibe. Die Männer sind alle längst verstorben.

Der barmherzige „Hannes“

Im Lagerschuppen und auf dem Hafengelände sorgte Johannes Retzkowski, genannt „Hannes“, mit seinem Besen für Ordnung. Er war Rentner und verdiente sich als Kalfaktor bei „RHENUS-MIDGARD“ mit kleinen Hilfsarbeiten ein Zubrot. „Hannes“ war von Beruf Eisenbieger bzw. Eisenflechter gewesen.

Johannes Retzkowski bzw. „Hannes“ wurde 1909 geboren und starb im Jahr 1995, wenige Tage vor seinem 86. Geburtstag. Von den zwölf Jahren des sogenannten „Dritten Reichs“ hatte er sechs Jahre in Gefangenschaft verbracht. Er saß von Juni 1937 bis Juni 1938 in Vechta im Gefängnis und wurde von dort in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Erst im Sommer 1943 wurde Johannes Retzkowski aus dem KZ entlassen.

Über die Gründe, die zu seiner Inhaftierung bzw. zu der Einweisung in das KZ geführt hatten, sprach Johannes Retzkowski nicht mit uns. Nach den Regeln des NS-Systems galt er als „arbeitsscheu“. So steht es jedenfalls auf der Karteikarte, die im KZ Buchenwald angelegt wurde. Für meine Kollegen und mich war „Hannes“ das Gegenteil: fleißig und eine Seele von Mensch. „Hannes“ wirkte zwar skurril, nahm uns aber alle für sich ein, denn er war hilfsbereit, und er hatte ein großes Herz.

Ich erinnere mich, dass „Hannes“ in einer Batterie von Eimern tagelang Schmutzwäsche für sich und die Kollegen einweichte. Das Waschergebnis war verblüffend gut. Hin und wieder kochte „Hannes“ auch für uns. Er bewohnte anfangs einen Schuppen auf dem Hafengelände. Später verfügte er über Wohnräume im Helmsweg und später in der Johannisstraße in Häusern, die sich in keinem guten Zustand befanden. Dort nahm der barmherzige „Hannes“ immer wieder Personen auf, die bedürftig waren.

Am Neujahrsmorgen 1974 servierte uns „Hannes“ im hinteren Teil der Scheune, in der sich das Papierlager befand, eine Suppe, die er aus Hasenpfoten gekocht hatte. Wir hatten hier die Silverster-Nacht zugebracht, nachdem wir eine kirchliche Veranstaltung besucht und uns dort kostenlos sattgegessen hatten. Die Männer hatten sich erst geziert, dann aber von mir überreden lassen. Allen war das Geld ausgegangen, weil aufgrund des Winterwetters keine Schiffe im Hafen lagen. Es war klirrend kalt. Der Ofen, der sich in dem Raum befand, wurde von uns mit Holz befeuert. „Hannes“ war nicht mitgekommen, als wir die kirchliche Veranstaltung besuchten. Er hatte begonnen, die Suppe zu kochen. Zuvor hatte er eine Flasche Schnaps aufgetrieben und sie während des Kochens und in der Nacht – während wir schliefen – geleert. Es lag wohl am Schnaps, dass im Topf alles gelandet war, was „Hannes“ unter die Hände gekommen war. Sogar ein Fetzen Stoff schwamm darin. Einer der Männer hatte den Fetzen plötzlich im Mund. Das minderte aber nicht unseren Appetit.

Kollege Hans R.

Hans R. (verstorben) war Anfang 1973 Chef des Papierlagers bei „RHENUS-MIDGARD“. Er war von Beruf Bergmann und zu der Zeit, als ich ihm unterstand, 29 Jahre alt. Hans R. hatte eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt und war danach nicht in den erlernten Beruf zurückgekehrt. Stattdessen war er zunächst eine Zeitlang mit einer Schaustellerfamilie von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gereist. Im Jahr 1971 war Hans R. als Tagelöhner zu „RHENUS-MIDGARD“ gewechselt und schon bald in der betrieblichen Hierarchie aufgestiegen. Ihm wurde erst die Leitung des Seifenlagers und später auch die Leitung des Papierlagers anvertraut. Da ich in den ersten Tagen im Papierlager eingesetzt wurde, war er in dem Hafenbetrieb mein erster Vorgesetzter.

Hans R. (links) und ich 1977 in Oldenburg

Hans R. erledigte die Arbeit zur vollen Zufriedenheit der Geschäftsleitung. Im Herbst 1973 verlobte sich Hans R. mit Heike N. aus Rastede. Er wollte sich eine „bürgerliche Existenz“ aufbauen. Doch die Beziehung zu Heike N. ging nach wenigen Monaten in die Brüche. Und der Arbeitgeber entband ihn von der Funktion als Lagerverwalter. Lag das daran, dass sich das Verhalten von Hans R. nach der „Entlobung“ geändert hatte? Oder daran, dass der Arbeitgeber erst jetzt von der Vorstrafe erfahren hatte? Der Traum von der „bürgerlichen Existenz“ war jedenfalls geplatzt. Danach verübte Hans R. etliche Einbrüche, u.a. auch bei seinem bisherigen Arbeitgeber, der Firma „RHENUS-MIDGARD“. Das führte die Polizei auf die Spur von Hans R.

Aufgrund der Einbrüche wurde Hans R. zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er in der JVA Hannover absaß. Als nach einigen Monaten erstmals für ihn die Möglichkeit eines mehrstündigen Hafturlaubs bestand, nahm er Kontakt mit mir auf. Hans R. benötige für den Hafturlaub eine „Bezugsperson“ und fragte mich, ob ich dafür zur Verfügung stünde. Ich willigte ein. Per Anhalter fuhr ich nach Hannover. Nach einem Gespräch mit dem Sozialarbeiter der Anstalt konnte ich Hans R. in Empfang nehmen. Ich verpflichtete mich, den Gefangenen abzuholen, zu begleiten und am Abend zurückzubringen. Gemeinsam zogen wir um die Häuser. Hans R. nutzte die Kontakte, die er im Gefängnis geknüpft hatte, für Besuche rund um den Steinplatz. Auf den Haft-Ausgang folgte ein Hafturlaub für ein Wochenende. Anfang der 1970er Jahre – ich lebte inzwischen in Berlin – verloren wir uns aus den Augen.

Kollege Rolf O.

Auch Rolf O. ist inzwischen verstorben. Er war von Beruf Maurer und 16 Jahre älter als ich. Ich lernte Rolf O. bei „RHENUS-MIDGARD“ einige Monate vor Beginn meiner Berufsausbildung kennen. Rolf O. war Witwer und Vater von zwei Kindern, die jedoch getrennt von ihm in einem Kinderheim lebten. Nachdem ich 18 Jahre alt geworden war, zogen Rolf O. und ich gemeinsam in eine Wohnung in der Schulstraße 9 im Stadtteil Osternburg. Die Wohnung lag im Erdgeschoss. Ohne Badezimmer bzw. Dusche. Waschen konnte man sich nur in der Küche.

Rolf O. auf dem Kramermarkt 1974

Als Mitbewohner erlebte ich Rolf O. von einer Seite, die ich bei ihm als Kollegen vorher nicht bemerkt hatte. Rolf O. trank mehr, als ihm gut tat. Außerdem erzählte er mir jeden Morgen die gleiche Geschichte seiner verstorbenen Ehefrau und seiner beiden Kinder, die ihm aufgrund seiner Alkoholsucht vom Jugendamt weggenommen worden waren. Rolf O. schien unter diesem Verlust sehr zu leiden.

Unsere Wohngemeinschaft endete, nachdem Rolf O. mir einen Bankscheck gestohlen, meine Unterschrift gefälscht und mein Konto geleert hatte. Daraufhin schloss ich ihn aus der Wohnung aus. Ein paar Tage später sah mein Vermieter, dass Rolf O. in der Dunkelheit vor dem Haus stand und mich durch ein Fenster beobachtete. In der Nacht hörte ich Geräusche. Rolf O. wollte das Fenster zu dem Zimmer, das er bewohnt hatte, aufbrechen. Da Rolf O. zu viel getrunken hatte, geschah sein Einbruchsversuch nicht geräuschlos. Ich wachte auf und konnte Rolf O. vertreiben.

Knapp ein Jahr später hatte Rolf O. woanders mehr Erfolg. Anfang 1977 berichtete die Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ), dass Rolf O. gestanden hatte, einen Rentner mit den Händen gewürgt, danach mit dem Gürtel erdrosselt und anschließend ausgeraubt zu haben. Ihm wurden auch zahlreiche Einbrüche nachgewiesen. Er kam in Oldenburg in Untersuchungshaft.

Nordwest-Zeitung (NWZ) vom 20.12.1977

Als ich einige Wochen später die Haftanstalt aufsuchte, um einen Gefangenen zu besuchen, begegnete ich Rolf O. zum letzten Mal. Ich saß allein im Besucherraum, als plötzlich die Tür aufging und Rolf O. ohne Begleitung eines Aufsehers mit einem Besen herein spazierte. Ich rechnete sofort mit einem Angriff. Doch Rolf O. fegte nur den Fußboden. Keiner von uns beiden sprach ein Wort.

Rolf O. wurde Ende 1977 verurteilt. Das Gericht sprach von „kaltblütigem“ Mord, verurteilte ihn jedoch nicht zu lebenslangem, sondern zu 15-jährigem Freiheitsentzug. Man ging davon aus, dass Rolf O. zur Tatzeit unter Alkoholeinfluss gestanden hatte. In nüchternem Zustand hatte ich Rolf O. als braven Kerl erlebt. War er nur deshalb zum Trinker geworden, weil er seine Ehefrau verloren hatte? War das die Erklärung, warum er schließlich sogar getötet hatte? 

Kollege Klaus S.

Klaus S. (verstorben) war ein ehemaliger DDR-Boxer. Er war mit Rita (ebenfalls verstorben) verheiratet. Rita war als Prostituierte tätig, wurde von manchen Männern aber verächtlich als „alte Fregatte“ bezeichnet. Sie war 1973 erst Mitte 40, sah aber aufgrund der fehlenden Zähne deutlich älter aus: nicht nur verlebt, sondern verbraucht. Doch auch Rita hatte ihr Herz oft am rechten Fleck.

Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ) vom 11.05.1973

Klaus S. war im Mai 1973 wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er hatte sich monatelang durch das Oldenburger Rotlicht-Milieu geprügelt. Der Polizei war es erst spät gelungen, ihn zu verhaften. Ihr Einsatz im Jahr 1972 soll unter den damaligen Kollegen am Hafen große Heiterkeit ausgelöst haben. So wurde es mir erzählt.

An einem Tag, an dem wieder einmal „Thomasmehl“ entladen wurde, seien zwei Polizisten erschienen, um Klaus S. zu verhaften. Einen Arbeiter, der gerade aus dem Frachtraum des Schiffes gestiegen war, hätten sie gefragt, wo sie Klaus S. finden könnten. Das Gesicht des Arbeiters sei durch das Thomasmehl geschwärzt gewesen. Deshalb hätten die Polizisten nicht gemerkt, dass es Klaus S. war, der vor ihnen stand. Er hätte die Polizisten zu den weit entfernt liegenden Lagerhäusern geschickt. Während die Polizisten in die angegebene Richtung gelaufen seien, habe sich Klaus S. in der entgegengesetzten Richtung aus dem Staub gemacht. Erst Wochen später sei er gefasst worden.

Bei der Urteilsverkündung blieb ihm die zunächst angedrohte Sicherheitsverwahrung erspart. Kein „Aus für Klaus“. Im Gegenteil: Klaus S. wurde bereits Ende 1974 wieder aus dem Gefängnis entlassen. Doch mit der Freiheit kam er nicht zurecht. Er prügelte sich erneut durch das Rotlicht-Milieu und vergriff sich auch an Frauen, die dort tätig waren. Im Jahr 1976 fuhr Klaus S. erneut „ein“. Diesmal für sehr lange Zeit.

Exkurs: Dina N. und die Sucht

Der „Schläger“ Klaus S. besaß auch eine fürsorgliche Seite. Anfang 1975 fragte er mich, ob ich einer Frau, die gerade eine kaufmännische Umschulung begonnen hatte, behilflich sein könne. Die Frau hieß Dina N. und war 31 Jahre alt. Sie war eine attraktive Erscheinung. Ihre Kleider waren nicht „von der Stange“. Auf der Straße zog sie die Blicke auf sich.

Als ich Dina N. das erste Mal besuchte, sollte es um Buchungssätze gehen. Allerdings stand ich selbst noch am Anfang meiner Ausbildung und besaß erst geringe kaufmännische Kenntnisse (siehe Exkurs: „Kaufmann statt Seemann“). Aber das spielte keine Rolle, denn Dina N. hatte ein viel größeres Problem: ihre Alkoholsucht. Dina N. war verheiratet gewesen, doch die Ehe war nach einem Jahr zerbrochen. War das eine Folge ihrer Alkoholsucht gewesen, oder war die Sucht entstanden, weil die Ehe zerbrochen war?

Die Hilfe, die Dina N. damals benötigt hätte, fand sie bei mir nicht. Als sie eines Tages nicht die Tür öffnete, rief ich die Polizei. Dina N. wurde bewusstlos aufgefunden. Sie hatte versucht, mit der Einnahme von Schlaftabletten ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die ärzliche Hilfe kam zu spät. Einen Tag nach der Einlieferung ins Krankenhaus starb Dina N.

Vorarbeiter Heinz Schönnagel

Unser Vorarbeiter bei „RHENUS-MIDGARD“, Heinz Schönnagel (verstorben), war nicht nur mein Vorgesetzter, sondern auch ein „väterlicher Freund“ gewesen. Seine Autorität wurde von allen Arbeitskollegen anerkannt, denn sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Er hatte sich immer wieder für ihre Interessen eingesetzt. Allerdings wurde ihm das nicht immer gedankt. Mir erschien er wie eine Mischung aus John Wayne und Gary Cooper („12 Uhr Mittags“), zumal er dem Letztgenannten auch äußerlich ähnelte.

Heinz Schönnagel hielt oft seine Hand schützend über mich – trotz genügend eigener Sorgen: Nachdem sein einziges Kind tödlich verunglückt war, verlor er durch eine Krankheit auch früh seine Ehefrau. Er verbrachte die letzten Arbeitsjahre an der Lkw-Waage des Hafenbetriebs „RHEIN-UMSCHLAG“. Er war ein ungewöhnlicher Vorgesetzter und guter Kamerad. Mindesten einmal überschritt sein Wohlwollen sogar die Grenze des Erlaubten. Es war zu Beginn meiner Berufsausbildung im September 1974 (siehe Exkurs: „Kaufmann statt Seemann“).

Einige Tage nach Beginn der Ausbildung hielt ich mich erstmals wieder auf dem Hafengelände auf. Ich wollte die Kollegen besuchen.  Als der Vorarbeiter, Heinz Schönnagel, mich sah, verpasste er mir lautstark einen „Anschiss“, der weit zu hören war. Wo ich gesteckt hätte, warum ich meinen Lohn nicht abholen würde, und dass sich die Leute im Kontor schon wundern würden.

Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was Heinz Schönnagel damit meinte: Er hatte mich eine Woche lang jeden Morgen als Tagelöhner gemeldet, obwohl er wusste, dass ich nicht anwesend war und – aufgrund meiner Ausbildung – auch nicht anwesend sein konnte. Das war Betrug und für ihn nicht ungefährlich.

„Ab ins Kontor“, befahl er mit donnernder Stimme. Dort wurde mir der Lohn, den ich nicht verdient hatte, tatsächlich ausgezahlt. Wohl fühlte ich mich dabei nicht. Warum hatte Heinz Schönnagel das getan? Ich habe ihn nie gefragt. Heinz Schönnagel starb 1992. Er wurde nur 67 Jahre alt.

Exkurs: Kaufmann statt Seemann

Mein Wunsch, zur See zu fahren, rückte in greifbare Nähe, als ich die Schule nach der neunten Klasse verließ. Ich hätte als Deckshelfer auf einem Frachter anheuern können. Das erforderliche Seefahrtsbuch beantragte ich gegen den Willen meiner Eltern. Da ich minderjährig war, lehnte die Heuerstelle den Antrag ab. Ein Jahr später sah die Welt anders aus. Jetzt wollte ich Journalist werden.

Ein Bekannter, der als Redakteur für die Nachrichtenagentur Reuters tätig war, hatte mir diesen Floh ins Ohr gesetzt. Er sah in mir nicht den Seemann, sondern einen künftigen Kollegen. Aufgrund seiner Empfehlung bewarb ich mich bei der „Nordwest-Zeitung“ (NWZ) für ein Volontariat. Doch der Chefredakteur der Zeitung, Bodo Schulte, lehnte ab. Ich erschien ihm zu jung und zu unerfahren.

Der Chefredakteur riet mir, vor dem Volontariat eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren (Bild). Diesen Rat befolgte ich. Die Eduard Beyer Glasformenfabrik bot an, mich auszubilden.

Der Firmeninhaber, Frank Backmann, war ein ungewöhnlicher Chef, mit dem man über Gott und die Welt sprechen konnte. Er hatte bis zum Abitur eine Waldorf-Schule besucht und sah darüber hinweg, dass ich selbst keinen Schulabschluss besaß. An ihn und an meinen späteren Berufsschullehrer, Hermann de Millas, denke ich gerne zurück. Hermann de Millas war ein „Menschenfänger“. Der Beruf war für ihn eine Berufung. An meinem 50. Geburtstag sahen wir uns erstmals wieder.

Mit der kaufmännischen Ausbildung waren die Weichen für mich gestellt. Ich wurde Kaufmann und bin es geblieben. Doch meine Sehnsucht nach allem, was mit der Seefahrt zu tun hat, blieb bestehen. Auch als Lehrling hielt ich mich regelmäßig am Oldenburger Hafen und in dessen Umfeld auf. Hier traf ich immer wieder die Kollegen von „RHENUS-MIDGARD“ und andere Personen, mit denen ich inzwischen vertraut war. Und wenn ausnahmsweise an einem Samstag ein Schiff zu entladen und Not am Mann war, half ich weiterhin als „Ersatzmann“ aus.

„HOLSTEN-ECK“ am Stau

Durch die Tätigkeit im Hafen lernte ich 1973 das Lokal „HOLSTEN-ECK“ kennen. Es befand sich im „Kaiserhaus“ am Stau, Ecke Kaiserstraße. Fünf Jahre lang verkehrte ich dort. Die Inhaber waren Franz Scharmann (1926 – 1993) und sein Sohn Kurt Scharmann (1947 – 2011). Vater und Sohn sorgten dafür, dass in dem Lokal alles mit rechten Dingen zuging. Es herrschte eine familiäre Atmosphäre, weil sich viele Gäste kannten.

Was wäre das „HOLSTEN-ECK“, was wären Franz und Kurt Scharmann gewesen, wenn sie nicht Ingrid S. an ihrer Seite gehabt hätten? Ingrid S. war eine bildschöne Frau, die viele Verehrer hatte. Sie war 28 Jahre alt, als ich sie im Jahr 1973 im „HOLSTEN-ECK“ kennenlernte. Mit ihren dunklen Haaren und der Brille ähnelte sie der Sängerin Nana Mouskouri. Als Anfang der 1980er Jahre der Pächter des Lokals wechselte, gründete Ingrid S. ihr eigenes Unternehmen. Ingrid S. war eine starke Frau, die sich nicht schonte. Ich besuchte sie kurz vor ihrem Tod am 24. Mai 2024. Ingrid S. starb – nach langer Krankheit – im Alter von 79 Jahren.

Niederlage im Boxring

Ein Gast, der im „HOLSTEN-ECK“ verkehrte, nahm mich Mitte 1973 zum Box-Training mit. Bereits sechs Monate später, im Januar 1974, durfte ich bei einer öffentlichen Box-Veranstaltung im Ring stehen. Es war keine offizielle Veranstaltung des Box-Verbandes, so dass bei den Regeln ein Auge zugedrückt werden konnte. Die Veranstaltung fand in einer Gaststätte statt.

Mein vorgesehener Gegner – ein Anfänger wie ich und in derselben Altersklasse – war kurzfristig erkrankt. Damit die Zahl der angekündigten Kämpfe dennoch stattfinden konnte, trat ich ersatzweise gegen einen Gegner an, der schon mehrere Kämpfe bestritten hatte. Er war älter und von größerer Statur. Immerhin gehörten wir derselben Gewichtsklasse (Halb-Mittelgewicht) an. Als zu Beginn der Veranstaltung alle Kämpfer einzeln vorgestellt wurden, ahnte ich bereits, was auf mich zukommen würde.

Dicke Schwaden von Tabakrauch hingen in der Luft des Saales, in dem der Boxring stand. Bereits in der ersten Runde wurde ich von meinem Gegner regelrecht verprügelt. Als ich zu Boden ging und nicht gleich aufstand, warf mein Trainer das Handtuch, so dass es „nur“ zu einem technischen K.O. kam. Die Sekunden davor habe ich nicht vergessen: Erst wurde mir schwarz vor Augen, dann verstummte der Lärm um mich herum.

Nach dem Kampf stellte ich fest, dass meine Nase verrutscht war. Ich schaffte es zwar, sie gerade zu biegen, aber der Luftkanal blieb verstopft, so dass ich lange Zeit kaum durch die Nase atmen konnte. Das änderte sich erst nach einer Operation im Sommer 1976 (Bild). Vom Amateurboxen hatte ich mich zuvor verabschiedet und mir einen Bart wachsen lassen.

H. und der Zuhälter

Den verlorenen Boxkampf im Januar 1974 konnte ich leichter verschmerzen als die Niederlage, die ich danach – im Sommer desselben Jahres – einstecken musste. Im Juni 1974 hatte ich die fünf Jahre ältere H. kennengelernt. Sie war 22 Jahre alt und bis vor wenigen Tagen in Hamburg auf den Strich gegangen. H. war von ihrem „Luden“ nicht gut behandelt worden und deshalb vor ihm geflohen. In Oldenburg war H. „gestrandet“. Hier wiegte sie sich in Sicherheit. Sie arbeitete jetzt im „HOLSTEN-ECK“. Der Wirt, Franz Scharmann, hatte H. in der Wohnung, die über dem Lokal lag, ein Bett zur Verfügung gestellt.

Anfang Juli 1974 bezog H. ein möbliertes Zimmer in der Nähe des Pius-Hospitals. Als ich Ende August 1974 nachts gemeinsam mit H. die nahe gelegene Imbissbude am Heiligengeistwall („Wurst-Maxe“) aufsuchte, erwartete uns eine Überraschung. Der Hamburger Zuhälter tauchte – in Begleitung eines anderen Mannes – plötzlich vor uns auf. Er griff nach H., die hinter mir stand und sofort flüchtete.

Die Imbissbude (Bild) besaß ein schmales Vorzelt, das die Gäste vor Wind und Regen schützen sollte. Drinnen war es so eng, dass den Männern der Weg nach draußen verstellt war, als ich vor ihnen stand. Mit einem Schlag räumte mich der Zuhälter beiseite. Dann stürmten er und sein Begleiter aus dem Vorzelt hinaus, um H. zu verfolgen.

Das ging alles so schnell, dass H. nur über einen Vorsprung von wenigen Sekunden verfügte. Ich nahm an, dass die Männer ihr dicht auf den Fersen seien. Deshalb wollte ich ihnen gleich folgen. Doch als ich wieder auf den Beinen war und das Vorzelt verließ, waren die Männer wie vom Erdboden verschluckt. Ob es ihnen bei der Verfolgung von H. ebenso ergangen war?

H. war den Verfolgern tatsächlich entkommen. Das war allein ihrer schnellen Reaktion zu verdanken gewesen. Sie hatte sich erst in der Grünanlage, die hinter der Imbissbude lag, versteckt, bevor sie den Mut fand, die Wohnung bzw. ihr Zimmer aufzusuchen. H. hatte Angst, dass der Zuhälter die Adresse kennen würde. Aber das war zum Glück nicht der Fall gewesen.

Die nächtliche Begegnung mit dem Zuhälter wurde für H. zu einer Zäsur. Sie gab ihre Tätigkeit im „HOLSTEN-ECK“ auf und unterzog sich einem medizinischen Eingriff. Als ich sie im Krankenhaus besuchte, saß ein gut gekleideter Verehrer, der deutlich älter war als H., an ihrem Krankenbett. Kurze Zeit später zog H. aus Oldenburg fort. Sie wollte die Gespenster der Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen.

Prostitution am Stau

Wer bei weiblicher Prostitution nur an Zuhälter, Zwang und Gewalt denkt, berücksichtigt nicht, dass es auch Frauen gibt, die allem Anschein nach ihr Gewerbe selbstbestimmt ausüben und sich nicht dazu genötigt sehen. Wenn sich eine solche Frau irgendwann aus freien Stücken entschließt, einen Mann an ihrem Leben und ihren Einkünften teilhaben zu lassen, hat das wenig oder nichts mit der üblichen Vorstellung von Zuhälterei zu tun. Das ändert nichts daran, dass es gute Gründe gibt, jede Form der Prostitution und jede damit verbundene Vorteilnahme abzulehnen.

Selbstbestimmt wirkten auch die Prostituierten, deren Männer im „HOLSTEN-ECK“ verkehrten.

Während die Frauen an der Straße bzw. im „GOLDENEN ANKER“ ihrem Gewerbe nachgingen, vertrieben sich ihre Männer die Zeit auf andere Weise. An Jürgen L., Gert O., Klaus T. und deren Frauen erinnere ich mich besonders gut. Sie gingen respektvoll miteinander um. Es schien sogar, als hätten die Frauen die Hosen an.

Gert O. ist mir besonders wegen seiner höflichen Umgangsformen im Gedächtnis geblieben. Er wurde 1938 in Dortmund geboren. Wegen der Kriegszeit und der Kriegsgefangenschaft seines Vaters wuchs Gert O. lange Zeit vaterlos auf. Das Schicksal seines Vaters veranlasste Gert O. im Jahr 1956, den Dienst in der neu gegründeten Bundeswehr abzulehnen. Am 11.11.1956 berichtete die in Ost-Berlin ansässige Zeitung „NEUES DEUTSCHLAND“ (ND), das Zentralorgan der damaligen SED, dass „der Jugendliche Gert O.“ Bürger der DDR werden wolle, um sich der westdeutschen Wehrpflicht zu entziehen. Gert O. konnte damals nicht ahnen, dass es die Wehrpflicht sechs Jahre später auch in der DDR geben sollte. Wann Gert O. seine Entscheidung bereute und beschloss, in den Westen zurückzukehren, weiß ich nicht. Aber lange kann es nicht gedauert haben.

Gert O. hatte den Beruf des Kellners gelernt. Seine Frau, die am Stau „anschaffte“, hieß Ilse. Im Jahr 1976 gab sie ihr Gewerbe auf, um zusammen mit Gert O. ein Lokal in Wilhelmshaven zu betreiben. Im Jahr 2018 ist Ilse O. verstorben.

„GOLDENER ANKER“ am Stau

Ilse O. war eine der Frauen, die im „GOLDENEN ANKER“ ein Zimmer gemietet hatten. Der „GOLDENE ANKER“ war ursprünglich eine einfache Hafenkneipe gewesen, aber durch die Zimmer-Vermietung an Frauen, die gewerblich tätig waren, zum Bordell geworden. Die „Freier“ wurden von den Frauen am Stau akquiriert und im „GOLDENEN ANKER“ „stationär“ behandelt. Ende der 1970er Jahre wechselte der Besitzer.

Das Haus verfügte aufgrund eines Anbaues über insgesamt zwölf Zimmer. Die Frauen, die keine Zimmer im „GOLDENEN ANKER“ gemietet hatten, übten ihre Tätigkeit auf dem unbewachten Hafengelände aus.

Eine eigene Liga bildeten die rund 20 Frauen des „EROS-CENTERS“, das sich an der Güterstraße, Ecke Ankerstraße befand. Zwischen ihnen und den Frauen vom Straßenstrich kam es hin und wieder zu einem „Dirnen-Krieg“.

Wiederbegegnung

Jürgen L. war einer der Männer, deren Frauen „anschafften“ und im „GOLDENEN ANKER“ ein Zimmer gemietet hatten. Ich traf ihn 20 Jahre später in Berlin wieder, als ich mit dem Fahrrad die Otto-Suhr-Allee entlang fuhr. Wir staunten beide, als wir uns plötzlich gegenüber standen. Jürgen L. hatte sich nach dem Tod seiner Frau aus dem „Milieu“ verabschiedet, neu geheiratet und in Berlin eine Anstellung als Monteur gefunden. Er starb im Jahr 2004. Das Bild stammt aus demselben Jahr. Jürgen L. wurde nur 66 Jahre alt.

Umzug nach Berlin und Heirat

Mit Akkordeon, 1976

Das „HOLSTEN-ECK“ besuchte ich regelmäßig. Als ich im Jahr 1976 einmal mein Akkordeon dabei hatte und das Lied „La Paloma“ spielte, schaute mich P. vergnügt an. Es war ihre erste Arbeitswoche, und wir verliebten uns. Kurz danach kam es zwischen P. und einer Frau, die mir einmal Geld zugesteckt hatte, mitten im Lokal zu einer Prügelei. Die andere Frau hatte zu viel getrunken.

Im Sommer 1977 endete meine Berufsausbildung. Ich unterschrieb bei der „BETEFA Berliner Telefonschnurfabrik GmbH“ einen Arbeitsvertrag und zog mit P. nach West-Berlin. Anfang 1978 wollten wir heiraten. Wir waren jetzt beide 20 Jahre alt. Die Feier fand in den Räumen von Greta und Henning Eichberg statt. Vielleicht waren wir noch zu jung für die Ehe. Nach nicht einmal zwei Jahren trennten wir uns.

Rückblick und Fazit

Seitdem ich aus Oldenburg weggezogen bin, hat sich die Gegend rund um den Stadthafen stark verändert. Den Umschlagbetrieb, in dem ich damals tätig war (RHENUS-MIDGARD) und die ehemaligen Speicher und Backstein-Gebäude gibt es schon lange nicht mehr.

Ausgebauter Hafen im Ostteil der Stadt Oldenburg
Mit dem Abriss der alten Speicher verlor der Hafen einen Teil seiner Seele.

Der Umschlag von Gütern findet nur noch im östlichen Teil des Hafens statt. Der alte Stadthafen wird jetzt für andere Zwecke genutzt. Wo einst die Ladungen der Schiffe „gelöscht“ wurden, liegen nur noch Segelboote und Yachten. Und in den ehemaligen Räumen des Hafenmeisters befindet sich ein Restaurant.

An die Menschen, denen ich in den Jahren 1973 bis 1977 im alten Oldenburger Stadthafen und dessen Umfeld begegnet bin, denke ich oft mit Wehmut zurück. Das gilt vor allem für meinen früheren Chef und Vorarbeiter bei RHENUS-MIDGARD, Heinz Schönnagel.