Schweinefraß

Im Jahr 1877 gründete Schlossermeister Eduard Beyer in Oldenburg eine Glasformenfabrik. Davor war er als Formenbauer in der Oldenburgischen Glashütte tätig gewesen. Die Glashütte wurde sein erster Kunde. Beide Firmen hatten ihren Sitz im Oldenburger Stadtteil Osternburg und lagen nur zwei Straßen voneinander entfernt.

In der Eduard Beyer Glasformenfabrik wurde ich von 1974 bis 1977 zum Industriekaufmann ausgebildet. Den Ausbildungsplatz verdankte ich dem Inhaber der Glasformenfabrik, Frank Backmann. Er bot mir den Ausbildungsvertrag an, obwohl ich nicht einmal den Hauptschulabschluss besaß. Die Glasformenfabrik hatte er erst wenige Jahre zuvor von seinem Vater übernommen.


Die Eduard Beyer Glasformenfabrik befand sich seit ihrer Gründung vollständig im Familienbesitz. Im Jahr 1936 erhielt auch der Buchhalter der Firma, Felix Jähnig, einen Anteil an der Firma. Als rund drei Jahrzehnte später Frank Backmann die Glasformenfabrik als neuer Eigentümer von seinem Vater übernahm, bewegte sich das Unternehmen bereits in schwerem Fahrwasser. Um die Abhängigkeit von der Glasindustrie zu verringern, bemühte sich Frank Backmann verstärkt um Aufträge aus der Kunststoffindustrie. 1975 folgte die Anpassung des Firmennamens. Die „Eduard Beyer Glasformenfabrik“ wurde in „Beyer Formenfabrik“ umbenannt. Die damit verbundene Umstrukturierung des Unternehmens verlangte dem neuen Firmeninhaber viel ab. Aber das ließ er sich kaum anmerken. Frank Backmann strahlte Zuversicht und geistige Unabhängigkeit aus. Seine persönliche Sparsamkeit beeindruckte mich. Es schien, als wollte er jede verdiente Mark gleich wieder in die Firma investieren.

Die meisten der rund 80 Arbeitnehmer waren in der Produktion beschäftigt. Im Büro arbeiteten nur der Inhaber (Frank Backmann), der Betriebsleiter (Hans Eifler, verstorben), der Buchhalter und Prokurist (Heinz Borchardt, verstorben), zwei Sachbearbeiterinnen (Erika Paradies und Frau Neumann, beide verstorben) sowie drei technische Zeichner. Eine schlanke Verwaltung – und das noch ohne Einsatz von IT.

Den Beschäftigten stand für die Pausen ein großer Raum zur Verfügung, in dem der Betriebsrat auch die Betriebsversammlungen durchführen konnte. Hier nahmen die Arbeiter und die gewerblichen Lehrlinge ihre Mahlzeiten ein. Kein Angestellter verirrte sich dorthin. Deshalb wurde ich im Büro erstaunt angesehen, als ich mich mittags zum ersten Mal in den Pausenraum begab. Ich wollte die anderen Lehrlinge kennenlernen.

Einige Arbeiter der Glasformenfabrik brachten ihr Mittagessen in einem „Henkelmann“ von zu Hause mit. Doch die meisten Arbeiter nutzten das Angebot einer Großküche, die in Portionsschalen aus Alufolie täglich ein Mittagsmenü lieferte. Wer von den Portionen nicht satt wurde, konnte sich aus den mitgelieferten Blechkübeln Kartoffeln und Gemüse als „Nachschlag“ nehmen.

Die Essensreste in den Blechkübeln

Zu Beginn meiner Ausbildung zahlte mir der Betrieb rund 300 DM pro Monat netto aus. Hinzu kam das Kindergeld, das meine Eltern an mich weiterleiteten sowie ein Mietzuschuss des Wohnungsamtes. Trotzdem reichte es hinten und vorne nicht. Da ich auf bestimmte Ausgaben nicht verzichten wollte, suchte nach Möglichkeiten, an anderer Stelle Geld zu sparen.

Das schien mir beim Mittagessen der Fall zu sein, denn die Blechkübel, in denen sich das Essen für den „Nachschlag“ befand, waren am Ende der Pause regelmäßig noch gut gefüllt. Deshalb kam ich auf den Gedanken, Mittags nur das zu essen, was in den Kübeln übrig geblieben war. So konnte ich die Kosten für das Menü der Großküche sparen und trotzdem satt werden. Wenn ich das aß, was übrig blieb, nahm ich anderen nichts weg. Das dachte ich jedenfalls.

Der Betriebsratsvorsitzende …

Der Betriebsratsvorsitzende sah das anders. Nachdem ihm aufgefallen war, dass ich mir am Ende der Pause Kartoffeln und Gemüse aus den Blechkübeln genommen hatte, sprach er ein Verbot aus: Das Essen in den Kübeln stünde nur denen zu, die dafür bezahlt hätten. So lange ich nichts für das Essen bezahlen würde, dürfte ich mir aus den Kübeln auch nichts nehmen. Auch nicht am Ende der Pause.

Die Mitglieder unserer Betriebsjugendgruppe halfen mir, das Verbot zu umgehen. Sie wohnten alle bei ihren Familien zu Hause und hatten das Mittagsmenü der Großküche bestellt. Sobald der erste aufgegessen hatte, füllte er „Nachschlag“ in seine Aluschale und kehrte damit an unseren Tisch zurück. Zum Schein aß er noch einen Bissen. Danach reichte er die Aluschale an mich weiter.  

… und dessen Schwein

Der Betriebsratsvorsitzende hatte gute Gründe, mir das Essen, das in den Blechkübeln übrig gebliebenen war, nicht zu gönnen. Aber das erfuhr ich erst später. Er wohnte mit seiner Familie am Stadtrand und besaß ein Schwein. Die Essensreste nahm er mit nach Haus, um sie als Schweinefraß zu verfüttern.

Der Lehrling sollte dem Schwein nicht das Essen wegfressen.