Als Jugendlicher träumte ich davon, zur See zu fahren. Das lag auch an den Liedern von Hans Albers („Nimm mich mit, Kapitän“), Lale Andersen („Blaue Nacht am Hafen“) und Freddy Quinn („Junge, komm bald wieder“), die ich schon als Kind gern gehört hatte – und die mich noch heute anrühren. Filme wie der UFA-Klassiker „Große Freiheit Nr. 7” (mit Hans Albers) verstärkten meine Sehnsucht.
Meine romantische Vorstellung von der Seefahrt, dem Leben der Seeleute und allem, was damit zusammen hängt, trieb mich in meiner Heimatstadt Oldenburg i.O. oft zum Hafen, der damals ein „Stadthafen“ am Rand der Altstadt war. Hier legten nicht nur Binnenschiffe, sondern auch Seeschiffe („Kümos“) an. Im Schuljahr 1972/1973 arbeitete ich erstmals in einem Umschlagbetrieb („Midgard Deutsche Seeverkehrs-AG“ später „Rhenus-Midgard“) mit – in den Ferien und an Tagen, an denen ich den Unterricht schwänzte. Die Schule interessierte mich nicht. Ich erreichte nicht einmal den Hauptschulabschluss.
Aber das war mir egal. In der Welt, in der ich leben wollte, war ein Schulabschluss nicht wichtig. Diese Welt lernte ich jetzt noch besser kennen (mehr in: Fast ein Lebenslauf).
Eine Welt, die es nicht mehr gibt
Es war eine Welt, die es nicht mehr gibt. In dem Umschlagbetrieb „Midgard“ war ich – ebenso wie die meisten meiner Kollegen – als Tagelöhner beschäftigt. Unser Stundenlohn betrug 5,27 DM brutto, so dass man nach einem achtstündigem Arbeitstag (plus der Pausen) rund 30 DM netto ausgezahlt bekam. Das war schon damals wenig. Mehr verdienen konnte man nur, wenn man nicht nach Zeit (Stundenlohn), sondern nach Leistung (Stücklohn bzw. Akkordlohn) bezahlt wurde.
Zwischen Stau und Hafenstraße
In den ersten Wochen war ich im Papierlager eingesetzt. Es befand sich in einer alten Scheune an der Güterstraße, Ecke Stau. Daneben, Ecke Ankerstraße, lag der Kontakthof eines Eros-Centers. Dessen Eigentümer besaß am Stau – 50 m vom Eros-Center in der Güterstraße entfernt – noch ein zweites Bordell („Goldener Anker“).
Im Papierlager lernte ich den Kollegen Peter Staschen kennen. Wir hatten die Aufgabe, die Papierrollen in LKWs zu verladen. Das Papierlager unterstand Hans R., einem ehemaligen Knacki, von dem ich mich schikaniert fühlte. Ich war froh, als ich vom Papierlager zu den Lagerhäusern am Hafenkai versetzt wurde. Hier legten Schiffe an, deren Ladung gelöscht werden sollte. Die neue Fracht nahmen die Schiffe an anderer Stelle auf. Nur im Herbst war es anders. Dann verluden wir Baumstämme, die aus den Wäldern der Umgebung stammten, auf Seeschiffe, die nach Skandinavien fuhren.

Beim Verladen der Baumstämme war auf ausreichende Stabilität zu achten, da bei stürmischem Seegang sonst die Gefahr bestand, dass das Schiff kentern oder Teile der Fracht verlieren könnte. Zwei Männer zogen mit Hilfe kleiner Spitzhacken jeden Baumstamm in die richtige Position.
Die Spitzhacke musste kräftig eingeschlagen werden, damit sie nicht aus dem Holz herausrutschte. Andernfalls ging man mit der Spitzhacke über Bord.
Akkordarbeit
Im Akkordlohn konnte man das Dreifache des normalen Stundenlohns verdienen. Deshalb freute ich mich, als ich eines Tages einer Akkordkolonne zugewiesen wurde. Einer der Männer war nicht erschienen. Die Kolonne musste 200 t Kunstdünger („Thomasmehl“) von einem Binnenschiff in Güterwaggons verladen. Als Jugendlicher hätte ich nicht im Akkord arbeiten dürfen, aber das spielte jetzt keine Rolle.
Das Thomasmehl war zu je 50 kg in Papiersäcke verpackt. Getreidemehl sogar zu je 60 kg. Besonders unangenehm waren die Plastiksäcke, die Harnstoff-Kristalle enthielten. Sie wogen ebenfalls 60 kg und waren schwer zu greifen. Da sie nicht restlos verschlossen waren, kamen die Hände mit dem Inhalt regelmäßig in Kontakt. Das brannte auf der Haut. Handschuhe waren keine Lösung, weil man damit nicht mehr hätte greifen können: Die Säcke wären aus der Hand gerutscht.

Zu jeder Akkordkolonne gehörten fünf Arbeiter: zwei Männer im Schiff, zwei Männer auf der Rampe des Waggons und einer, der im Waggon die Sackkarre fuhr. Die 200 t Thomasmehl bestanden aus 4.000 Papiersäcken á 50 kg, die alle einzeln angefasst werden mussten. Im Frachtraum des Schiffes bewegte jeder Mann allein pro Tag 2.000 Säcke. Dabei wurden jeweils 25 Säcke auf eine Plane gepackt und als „Hiev“ vom Kran auf die Rampe des Waggons befördert

Die beiden Arbeiter, die auf der Rampe des Waggons standen, luden jeden der 4.000 Säcke zu zweit auf die Sackkarre, die vom fünften Mann gefahren wurde. Die Sackkarre musste mit Geschick abgekippt werden, damit jeweils 20 „Hievs“ mit insgesamt 500 Säcken tatsächlich im Waggon Platz fanden. Das waren 25 t.
Mein Platz in der Kolonne

Mein Platz in der Kolonne war auf der „Rampe“. Gemeinsam mit einem Kollegen packte ich die Säcke, die der Kran auf der Rampe abgeladen hatte, auf die Sackkarre. Am ersten Tag in der Kolonne machte ich nach dem dritten Waggon (also nach immerhin 1.500 Zentner-Säcken) „schlapp“. Daraufhin reichte mir der Vorarbeiter eine Zigarette: eine »Reval« ohne Filter. Das empfand ich wie einen Ritterschlag. Ich durfte bleiben. Kurz danach wurde ich von den Kollegen „getauft“.
Sie packten mich an Händen und Füßen und warfen mich mit Schwung ins Hafenbecken. Erst jetzt gehörte ich wirklich „dazu“ – obwohl ich nur ihr „Ersatzmann“ war.
Meine Kollegen
Meine damaligen Kollegen waren deutlich älter als ich: Peter Staschen, der immer einen Witz auf der Zunge hatte, August Hechler, der ebenso wie ich für Hans Albers schwärmte (verstorben), Rolf O., mit dem ich mir 1975 eine Wohnung teilte, bis er mich bestahl (einige Monate später erdrosselte er seinen Saufkumpan und wanderte ins Gefängnis), Hans R., der mich als Leiter des Papierlagers schikaniert hatte (als er später er in der JVA Hannover eine Haftstrafe absaß, benannte er mich als „Bezugsperson“), der aus der DDR geflohene Klaus Schumann, der sich mehrfach wegen Körperverletzung verantworten musste (verstorben), der zahnlose „Fuzzi“ (siehe Bild) sowie Erich, Ronny, Willi, die vier Oltmann-Brüder und viele andere, deren Namen ich vergessen habe. Die Oltmann-Brüder waren Arbeitsmaschinen. Sie kamen nur zur Arbeit, wenn nach Akkord bezahlt wurde. An den übrigen Tagen arbeiteten sie im Moor.
Begehrte Schlafplätze
Der Akkordlohn war schwer verdientes Geld. Umso unbegreiflicher war es, wie einige Männer mit dem Geld umgingen. Manche waren schon am nächsten Morgen „blank“.
Wer in der Nacht betrunken nicht den Weg nach Hause fand oder wegen Mietschulden obdachlos geworden war, suchte sich einen Schlafplatz in dem Schuppen, der uns als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand. Verpackungsmaterial diente dabei als Matratze. In den Jahren 1973 und 1974 gehörte auch ich eine Zeitlang zu den Schlafgästen – wenn auch aus anderen Gründen.
Die begehrtesten Schlafplätze befanden sich im hinteren, unbeleuchteten Teil des Schuppens, da man dort weitgehend ungestört schlafen konnte. Im Raum davor lagen die „Spätheimkehrer“ und diejenigen, die weniger privilegiert waren. Dazu gehörte auch ich. Im Sommer 1974 war der Schuppen derart überbelegt, dass die Nächte gestört waren und ich nur wenig Schlaf fand. Das hielt ich nicht lange aus.
Waschtechnik & Kochkünste
In dem Lagerschuppen hauste sonst nur Hannes, ein Rentner, der vor 1945 in einem KZ inhaftiert gewesen war. Er verdiente sich mit Hilfsarbeiten ein Zubrot – und kümmerte sich auf fürsorgliche Weise um seine „Mitbewohner“. In einer Batterie von Eimern weichte er tagelang Schmutzwäsche ein – mit verblüffend gutem Waschergebnis. Hin und wieder kochte er auch für die Männer.
Am Neujahrstag 1974 servierte er eine graue Suppe, die er in der Nacht aus Hasenpfoten gekocht und dabei eine Flasche Schnaps geleert hatte. In dem Kochtopf war alles gelandet, was ihm unter die Hände gekommen war. Sogar ein Fetzen Stoff schwamm darin. Das minderte nicht unseren Appetit. Hannes war eine Seele von Mensch, der wohl auch ein Herz für Kinder hatte. Tagsüber sah man ihn häufig in Begleitung kleiner Kinder, die in der Umgebung zuhause waren. Ich hoffe, dass es so harmlos war, wie es mir damals erschien.
Badebetrieb

Duschräume gab es in dem Betrieb nicht – trotz der schmutzigen Tätigkeit. Handwaschbecken mussten genügen. Wer privat keine Möglichkeit hatte, sich gründlicher zu waschen, suchte am Wochenende die städtische Badeanstalt auf. Dort gab es Kabinen mit Badewannen, in denen man sich in Ruhe reinigen konnte. An solchen Einrichtungen gab es damals Bedarf, weil längst nicht alle Wohnungen über ein Badezimmer verfügten. Als Kind hatte ich in dieser Badeanstalt Schwimmen gelernt.
Mein erster Boxkampf
Von dem Milieu rund um den Hafen und den „Anstandsregeln“, die dort herrschten, war ich beeindruckt. Ende 1973 trat ich in Oldenburg dem Boxclub bei, in dem einer meiner Kollegen trainierte. Mein erster Kampf fand Anfang 1974 in dem verräucherten Saal eines Gasthofs in Kirchlengern statt, etwa 120 km entfernt von Oldenburg. Er endete für mich mit einer Niederlage.
Es handelte sich um einen Schaukampf zur Unterhaltung eines überwiegend bäuerlichen Publikums. Deshalb hatte man die Regeln den Verhältnissen angepasst. Mein ursprünglich vorgesehener Gegner, angeblich ein Anfänger wie ich, war kurzfristig erkrankt. Der Ersatzmann, gegen den ich stattdessen antreten sollte, war größer und älter als ich. Er hatte längere Arme als ich und hatte schon mehrere Kämpfe erfolgreich bestritten. Ich ahnte, was mir bevorstand – und wurde nicht enttäuscht. Schon in der ersten Runde wurde ich von ihm regelrecht verprügelt. In der zweiten Runde ging ich für wenige Sekunden bewusstlos zu Boden. Meinem Trainer genügte das. Er warf das Handtuch. Als ich zu mir kam, war der Kampf vorbei.
„HOLSTEN-ECK“ im „Kaiserhaus“
Die Gaststätte, die meine Kollegen aus dem Umschlagbetrieb und ich regelmäßig besuchten, war das „HOLSTEN-ECK“. Das Lokal befand sich im „Kaiserhaus“ an der Kaiserstraße, Ecke Stau, und war nur 150 m von unserem Arbeitsplatz entfernt. Es gehörte Franz Scharmann und seinem Sohn, Kurt Scharmann. Sie sorgten dafür, dass alles mit rechten Dingen zuging. Ein ungebührliches Verhalten wurde sofort geahndet.

In dem Lokal verkehrten auch die Männer, deren Frauen als Prostituierte tätig waren. Ihr Umgang miteinander zeugte von gegenseitigem Respekt. Während die Frauen an der Straße auf „Freier“ warteten, um „anzuschaffen“, vertrieben sich ihre Männer im „HOLSTEN-ECK“ mit harmlosem Glücksspiel die Zeit.
Die Frauen hatten ihre Zimmer in dem Bordell „Goldener Anker“, das nur einige Meter vom „HOLSTEN-ECK“ entfernt war. Dort sollte ich im Jahr 1975 auf Wunsch der Frauen „Hausmeister“ werden. Die Aufgabe hätte nur wenige Stunden pro Woche in Anspruch genommen und wäre mit meiner Berufsausbildung, die einige Monate vorher begonnen hatte, zeitlich vereinbar gewesen. Aber dazu kam es nicht.
Berufsausbildung
Im September 1974, ein halbes Jahr vor meinem 18. Geburtstag, erhielt ich in der Oldenburger Glasformenfabrik Eduard Beyer überraschend einen Ausbildungsplatz. Das war nicht der erträumte Beruf, aber die richtige Entscheidung.
Bis dahin hatte ich gehofft, irgendwann als Decksmann zur See fahren zu können. Mein Versuch, beim Seemannsamt in Brake (Unterweser) ein Seefahrtsbuch zu beantragen, um auf einem Schiff anheuern zu können, war allerdings gescheitert, da ich minderjährig war. Sehnsüchtig erwartete ich meinen 18. Geburtstag. Dass mein Leben einen anderen Verlauf nahm, verdankte ich dem Inhaber der Glasformenfabrik.
Mit Beginn der Ausbildung arbeitete ich nur noch gelegentlich Samstags und im Urlaub in dem Umschlagbetrieb mit. Unabhängig davon blieb ich mit den Kollegen von „Midgard“ und den anderen Personen, die ich rund um den Oldenburger Hafen kennengelernt hatte, verbunden.
Frühe Heirat
1976 lernte ich im „HOLSTEN-ECK“ meine erste Ehefrau kennen. Sie stand eines Tages als neue Bedienung hinter dem Tresen. Wir wurden ein Paar, zogen nach West-Berlin und heirateten. An der Hochzeit nahmen nur acht Gäste teil. Die Feier fand in Murrhardt (Baden-Württemberg) – in der Wohnung von Greta und Henning Eichberg – statt. Henning Eichberg hielt eine eindrucksvolle Rede, doch die Rede konnte nicht verhindern, dass unsere Ehe schon früh scheiterte. Nach zwei Jahren trennten wir uns.
Noch ein Wort zum Vorarbeiter
Der Vorarbeiter bei Midgard, Heinz Schönagel, war nicht nur mein Vorgesetzter, sondern auch ein „väterlicher Freund“. Ich verehrte ihn. Seine Autorität wurde von allen Kollegen anerkannt. Sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Er hatte sich immer wieder für ihre Interessen eingesetzt. Mir erschien er wie eine Mischung aus John Wayne und Gary Cooper („12 Uhr Mittags“).
Heinz Schönagel hielt oft seine Hand schützend über mich – trotz genügend eigener Sorgen: Nachdem sein einziges Kind tödlich verunglückt war, verlor er durch eine Krankheit auch früh seine Ehefrau. Der Vorarbeiter Heinz Schönnagel starb, nachdem der Hafenumbau abgeschlossen war. Er war Vorgesetzter – und ein guter Kamerad.
Unverdienter Lohn
Einmal überschritt das Wohlwollen des Vorarbeiters mir gegenüber sogar die Grenze des Erlaubten: Als ich mich wenige Tage nach Beginn meiner Berufsausbildung erstmals wieder im Hafen blicken ließ, erntete ich von ihm einen lautstarken „Anschiss“: Warum ich meinen Lohn nicht abholen würde! Die Leute im Kontor würden schon fragen! Es dauerte eine Weile, bis ich das, was er gesagt hatte, begriff.
Heinz Schönnagel hatte mich eine Woche lang als Arbeitskraft gemeldet, obwohl ich nicht anwesend gewesen war. „Ab ins Kontor“, befahl er zum Schluss. Dort wurde mir der unverdiente Lohn ausgezahlt. Warum hatte der Vorarbeiter das getan? Ich habe ihn nie gefragt.
Rückblick
Meine „Hafenzeit“ liegt lange zurück und beschränkt sich auf die Jahre von 1973 – 1977. Mein Bericht soll einen kleinen Einblick in diese Zeit vermitteln, ist aber natürlich unvollständig.
Seitdem ich Oldenburg verlassen habe, hat sich vieles verändert. Den damaligen Umschlagbetrieb mit den Lagerhäusern („Midgard“ und später „Midgard-Rhenus“) gibt es nicht mehr. Die Backstein-Gebäude wurden abgerissen, und der Hafen wurde zum Stadtrand hin ausgebaut. Der vordere Teil des Stadthafens wird jetzt für andere Zwecke genutzt. Wo einst die Ladungen der Frachtschiffe „gelöscht“ wurden, liegen heute nur noch Segelboote und Yachten. Und in den früheren Räumen des Hafenmeisters befindet sich ein Edel-Restaurant.
An den einstigen Hafenbetrieb und die Menschen, die mir in dessen Umfeld begegnet waren, denke ich oft mit Wehmut zurück. Das gilt vor allem für Heinz Schönagel, den damaligen Vorarbeiter.