Vorbemerkung: Meine beiden Geschwister und ich wuchsen mit den Geschichten auf, die von der verlorenen Heimat unserer Eltern handelten. Zu Weihnachten stellten wir brennende Kerzen in die Fenster, um die Verbundenheit mit den Deutschen in der DDR zu zeigen. Wir waren überzeugt, dass die deutsche Teilung nicht von Dauer sein konnte. Der Wunsch, die Teilung und deren Folgen zu überwinden, führte mich später in unterschiedliche politische Milieus. Die Konflikte, die damit verbunden waren, geben auch Auskunft über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse – und den Umgang der Deutschen mit ihrer Nation.
Die fragwürdige Form des „Beitritts“
Deutschland ist seit 1990 wieder „vereint“. Wie umstritten die Vereinigung gewesen war, ist heute weitgehend vergessen. Vorbehalte gab es nicht nur im Ausland. In Deutschland wurde insbesondere die Form kritisiert. Manche Bürger – nicht nur der DDR – empfanden die Form des „Beitritts“ der DDR zur Bundesrepublik, der am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde, als unwürdig. Sie wünschten sich eine Vereinigung auf Augenhöhe.
Zwei Staaten unter fremdem Oberbefehl
Die beiden Staaten gehörten gegnerischen Militärbündnissen – NATO bzw. Warschauer Pakt – an. Die Bundeswehr der Bundesrepublik stand unter amerikanischem, die Volksarmee der DDR unter sowjetischem Oberbefehl. Im „Ernstfall“ hätten fremde Befehlshaber entscheiden können, ob Deutsche auf Deutsche schießen.
Darüber hinaus drohte Deutschland in den 1980er Jahren zum atomaren Kriegsschauplatz zu werden, weil die beiden Supermächte USA und UdSSR immer mehr Atomraketen auf deutschem Boden stationierten. Dabei spielte der „NATO-Doppelbeschluss“ eine wichtige Rolle. Am Ende beschleunigte das Wettrüsten die Auflösung des „Warschauer Paktes“ und den Zerfall der UdSSR. Das mindert nicht die damalige atomare Gefahr, zeigt aber, wie widersprüchlich vieles war.
An die deutsche Einheit hatte die Politik nicht geglaubt
Die deutsche Teilung war eine Gefahr für den Frieden. Doch viele Politiker glaubten das Gegenteil. Sie hielten schon das Nachdenken über dieses Thema für gefährlich, weil die Verhältnisse damit in Frage gestellt wurden. Die Einheit Deutschlands war – allen Sonntagsreden zum Trotz – einfach nicht vorgesehen. Nicht einmal in den „Planspielen“ des Bonner Apparats. Alles sollte so bleiben, wie es war, denn „Stabilität“ galt als Synonym für „Frieden“. Deshalb stießen auch die Bürgerrechtler des Ostens bei den Regierenden des Westens lange Zeit auf taube Ohren. Wer im Osten demokratische Freiheit forderte, gefährdete angeblich die Stabilität der politischen Machtverhältnisse – und damit letztlich den Frieden.
Der falsche Umgang mit einer existenziellen Frage unserer Nation hatte seinen Preis – und erklärt, warum manche Politiker selbst Ende 1989 nicht die Zeichen der Zeit erkannten. Das gilt auch für jene, die vorher jahrelang die „Anerkennung der Realitäten“ gefordert – und damit nur die staatliche Anerkennung der DDR gemeint hatten. Tatsächlich hatten sie in deutschlandpolitischen Fragen längst den Realitätssinn verloren. Viele von ihnen glaubten noch in den Tagen nach dem 9. November 1989, dass die Zweistaatlichkeit fortbestehen könnte. Sie hatten sich so sehr an die Teilung gewöhnt, dass sie sich die Einheit nicht vorstellen konnten.
Familiengeschichte
Meine Eltern lernten sich in der Gefangenschaft kennen. Durch das Kriegsende und die Vertreibung hatten sie ihre Heimat verloren. Dass der Verlust endgültig war, begriffen sie erst später. Mein Vater war in Thorn (Westpreußen) geboren und in Stolp (Pommern) aufgewachsen. Seine Eltern stammten aus Sensburg (Ostpreußen). Meine Mutter kam aus dem kleinen Dorf Kuschten (Kreis Meseritz). Unsere Eltern hingen an ihrer alten Heimat. Das spürten meine Geschwister und ich. Vor allem bei unserem Vater.
Als Hitler 1933 an die Macht kam, waren unsere Eltern 14 Jahre alt. Wie sie erst als Jugendliche – und später als junge Erwachsene – das „Dritte Reich“ erlebten, und wie sie nach 1945 mit der NS-Zeit umgingen, schildere ich im Beitrag Familie und Nationalsozialismus.
Bundeswehr und Nationale Volksarmee
In der DDR lebten Verwandte von uns. Der Gedanke, im Fall eines Krieges auf die Verwandten oder überhaupt auf Deutsche schießen zu sollen, galt in unserer Familie als ungeheuerlich. »Nationale Volksarmee« und »Bundeswehr« waren aus unserer Sicht „Bürgerkriegs-Armeen“. In einer solchen Armee wollten mein Bruder und ich nicht „dienen“. Mein Bruder berief sich auf seinen christlichen Glauben – und wurde deshalb nicht „eingezogen“. Ich selbst wollte aus anderen Gründen verweigern – und erklärte, jederzeit bereit zu sein, mit der Waffe in der Hand die Freiheit des deutschen Volkes zu verteidigen. Aber ich sei nicht bereit, auf Deutsche in der DDR zu schießen. Mein Antrag auf Verweigerung wurde abgelehnt.
Meine Ablehnung des Wehrdienstes bedeutete nicht, dass ich die Verhältnisse in der DDR guthieß. Die DDR war für mich ein Unrechtsstaat von „sowjetischen Gnaden“. Aber das sahen wohl viele Deutsche so – in Ost und West. Trotzdem hatten die meisten ihren „Frieden“ mit der deutschen Teilung gemacht.
Die Gleichgültigkeit des Westens gegenüber „Mauer und Stacheldraht“ und gegenüber den Heimatvertriebenen empörte mich schon früh – und führte mich Anfang der 70er Jahre politisch weit nach „rechts“. Mit 15 Jahren trat ich einer rechtsradikalen Jugendorganisation bei. Doch mein politisches Weltbild geriet bald danach in Bewegung. Ich verfasste Flugblätter gegen den Putsch der Militärjunta in Chile und engagierte mich u.a. in der Anti-Atombewegung.
Schule, Ausbildung & mehr
Politisch hielt ich mich für aufgeweckt, doch die Schule langweilte mich. Ich erreichte nicht einmal den Hauptschulabschluss. Aber das war mir egal. In der Welt, in der ich leben wollte, kam es darauf nicht an. Das dachte ich jedenfalls. Ich träumte davon, zur See zu fahren und arbeitete im Hafen meiner Heimatstadt Oldenburg in einem der Umschlagbetriebe (mehr in: Oldenburger Hafenromantik).
Dann erhielt ich einen Ausbildungsplatz in einer Fabrik für Glasformen (mehr dazu in Betriebsjugendgruppe und Schweinefraß). Ich trat der IG Metall bei und arbeitete in deren Ortsjugendausschuss mit. Außerdem schloss ich mich den sogenannten linken Leuten von rechts an. Wir forderten eine „Neuvereinigung“ der beiden deutschen Staaten auf sozialistischer Grundlage. Eine „Wiedervereinigung“ lehnten wir als „restaurativ“ ab
Ein feindlicher Agent
Einige Monate vorher, im April 1974, war ich am Rande einer Veranstaltung einem Mann begegnet, der zwar freundlich tat, es aber nicht gut mit mir meinte. Ich war gerade 17 Jahre alt geworden. Der Mann war etwa 30 Jahre älter. Er war auf mich aufmerksam geworden, weil ich mich in der Veranstaltung kritisch zu Wort gemeldet hatte.
Ich ahnte nicht, dass der Mann in fremdem Auftrag handelte. Erst recht nicht, dass er mich zu kriminellen Taten verleiten wollte. Ich schenkte ihm mein Vertrauen. Zehn Jahre später erfuhr ich, wer er wirklich gewesen war. Er war wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nachdem er aus der Haft entlassen worden war, hatte ihn das Landesamt für Verfassungsschutz als „V-Mann“ angeworben (mehr dazu im Beitrag Verfassungsfeinde).
Gegen „rechte” und „linke” Antidemokraten
Mein Patriotismus war verbunden mit der Idee einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft. Doch in der Bundesrepublik hatten die meisten Linken kein Verständnis für die „nationale Frage“. Und die maoistischen Gruppen, die für die deutsche Einheit eintraten, hatten ein fragwürdiges Demokratieverständnis. Dennoch nahm ich eine Zeitlang an mehreren Demonstrationen und Veranstaltungen der verschiedenen maoistischen Splittergruppen (KBW, KPD, KPD/ML), die sich selbst als „Marxisten-Leninisten“ verstanden, teil.
Aber überzeugt war ich nicht. Mich stieß ab, dass die „Marxisten-Leninisten“ Josef Stalin verehrten. Und was war mit Mao Tse-tung, Pol Pot und anderen Säulenheiligen?
Mit Mao Tse-tung und dessen „chinesischem Weg“ zum Sozialismus hatte ich selbst kurze Zeit sympathisiert – in Unkenntnis der Millionen Toten, mit denen dieser Weg gepflastert war. Von der Position der Volksrepublik China in der „deutschen Frage“ war ich begeistert. Meine Freundin gehörte der Schülerorganisation der „maoistischen“ KPD an. Sie schleppte mich eines Tages zu einer Schulungsveranstaltung der Partei. Es ging um Stalins Schrift „Über dialektischen und historischen Materialismus”. Bisher hatte ich den Stalinismus der Mao-Jünger nicht ernst genommen. Doch nun wurde mir klar, dass auch sie auf mindestens einem Auge blind waren. Ein solcher „Linker” wollte ich nicht sein.
Dissidenten – „rechte” und „linke” zugleich
Die »linken Leute von rechts« waren anders. Durch ein Flugblatt, das mein älterer Bruder von der Universität mitgebracht hatte, erfuhr ich von ihnen. Diese Leute schienen politisch nicht „einäugig” zu sein, denn sie verurteilten jede Diktatur. Wegen der deutschen Frage waren sie zunächst zu „Antikommunisten“ geworden – und auf der „Rechten” gelandet. Doch mit ihren sonstigen Ansichten und ihrem Lebensgefühl gehörten sie zur „Linken”. Sie waren Dissidenten – „rechte” und „linke” zugleich. Bald gehörte ich dazu.
Wir diskutierten über die Thesen des tschechischen Wirtschaftswissenschaftlers Ota Sik, schwärmten von alternativen Lebensformen, von Rätedemokratie, von genossenschaftlicher Selbstverwaltung, von einem demokratischen Sozialismus – und vor allem von der Solidarität der unterdrückten Völker. Den politischen Zielen der »Sinn Fein« in Nordirland fühlten wir uns ebenso verbunden wie dem Befreiungskampf der Kurden. Unser Verständnis von “Ethnopluralismus” war antirassistisch und antiuniversalistisch zugleich. Manches, woran wir damals glaubten, erkannten wir später als Irrtum. Einige „Führungskader” trugen unfreiwillig dazu bei.
Umzug nach West-Berlin und Heirat
Nach Beendigung der Berufsausbildung fand ich eine Arbeitsstelle in West-Berlin. Gemeinsam mit meiner damaligen Freundin zog ich in die geteilte Stadt. Wir kamen als Untermieter in dem Zentrum der „nationalrevolutionären Basisgruppe“ unter. Es befand sich in Berlin-Neukölln in der Nähe des Hermannplatzes. Kurz darauf heirateten wir. Doch die Ehe wurde schon bald geschieden.
In der Basisgruppe fühlten sich meine damalige Ehefrau und ich nicht wohl. Mit den Mitgliedern wurden wir nicht „warm“. Der einzige, mit dem ich mich verstand, verließ kurze Zeit später die Gruppe. Die anderen Mitglieder wirkten immer sehr ernst. Sie schienen sich auch sehr wichtig zu nehmen, jedenfalls lachten sie kaum – schon gar nicht über sich selbst. Einmal begrüßte uns der Sprecher der Basisgruppe mit den Worten: „Genossen, ich bin heute mit der U-Bahn gefahren. Mein Auto ist in der Werkstatt. Es ist ein revolutionäres Gefühl, sich mitten im Volk zu bewegen.“ Da merkte ich, dass nicht nur das Auto defekt war.
Neue politische Freunde
Davon unabhängig hatten auch die „Klassiker“, die ich bisher blind verehrt hatte, erste Kratzer bekommen. Das erleichterte mir die Entscheidung, mich von den »linken Leuten von rechts« zu verabschieden. Das bedeutete nicht, dass ich alles „verdammte“, was ich bisher vertreten hatte. Ich sah nur manches mit anderen Augen. Das lag wohl auch an meinen neuen politischen Freunden, die ich in West-Berlin gefunden hatte. Sie kritisierten ebenfalls die Verhältnisse in Osteuropa und traten für die Überwindung der deutschen Teilung ein. Dabei waren sie undogmatisch – und konnten lachen.
Einige von ihnen hatte ich 1978 im »Bahro-Komitee« kennengelernt. Das Komitee forderte die Freilassung des in der DDR inhaftierten Regimekritikers Rudolf Bahro und warb für eine Auseinandersetzung mit den politischen Ideen, die Rudolf Bahro in seinem Buch „Die Alternative“ veröffentlicht hatte. Durch das »Bahro-Komitee« ergaben sich einige weitere Aktivitäten: so beteiligte ich mich an einer Initiative für ein »Russell-Tribunal« zur Situation der Menschenrechte in der DDR und an Solidaritätsaktionen für Mitglieder der »Charta 77« in der CSSR. Im „Ostblock“ war die Frage der demokratischen Freiheit unlösbar mit der Frage der Volkssouveränität verbunden: der Weg zur Demokratie führte über das Selbstbestimmungsrecht – und war von sowjetischen Panzern versperrt.
„Links-Opportunisten und Antikommunisten“
1980 fand in Kassel die »Sozialistische Konferenz« mit rund 1.200 Teilnehmern statt. Fast alle linken Gruppierungen der Bundesrepublik – mit Ausnahme der DKP und ihres Umfeldes – beteiligten sich. Ich gehörte dem Gründungskreis an. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR bezeichnete uns als „Links-Opportunisten und Antikommunisten“ – und erteilte mir ein dauerhaftes Einreiseverbot.
Damals engagierte ich mich in unterschiedlichen Organisationen. Für einige von ihnen erstellte ich auch Zeitschriften und Broschüren. Dazu gehörten neben dem »Bahro-Komitee« die »Internationale Liga für Menschenrechte« und die »Juso-Hochschulgruppe« der TU Berlin (obwohl ich nicht studierte). Außerdem arbeitete ich in einer Arbeitsgruppe des Netzwerks Selbsthilfe und in der Aktion 18. März mit.
18. März als neuer Nationalfeiertag
Die »Aktion 18. März« setzte sich – in Erinnerung an die Revolution von 1848 – für einen gemeinsamen Nationalfeiertag in den beiden deutschen Staaten ein. Der frühere Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Heinrich Albertz, und die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz hatten die Schirmherrschaft übernommen. Mit dem gemeinsamen Nationalfeiertag in Ost und West sollte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen gestärkt werden. Dafür wollte man den »17. Juni« – den damaligen „Feiertag“ im Westen – politisch „opfern“. Das fand ich opportunistisch. Deshalb unterschrieb ich den Aufruf nicht. Doch die Idee des gemeinsamen Nationalfeiertages unterstützte ich von ganzem Herzen – manchmal auch musikalisch (Bild).
Seit 1990 kommen die Freunde der »Aktion 18. März« jedes Jahr auf dem »Friedhof der Märzgefallenen« zusammen. Der Gründer der »Aktion 18. März«, Volker Schröder, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Und in Berlin wurde der Platz vor dem Brandenburger Tor im Jahr 2000 in »Platz des 18. März« umbenannt. Inzwischen wird an jedem 18. März in Berlin offiziell „geflaggt“. Wir hoffen, dass der »18. März« irgendwann in Deutschland „nationaler Gedenktag“ sein wird.
Alternative Liste (AL) und die GRÜNEN
Auch Volker Schröder ist „Dissident“. Durch ihn fand ich 1980 den Weg zur Westberliner »Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz« (AL). Hier glaubte ich, endlich meine politische Heimat gefunden zu haben, denn die »Alternative Liste« bekannte sich zur deutschen Einheit. 1981 gehörte ich einer Initiative an, die sich mit einem Wahlaufruf an die sozialistische und demokratische Linke West-Berlins wandte.
Die »Alternative Liste (AL)« wurde später zum Berliner Landesverband der »GRÜNEN« – und veränderte sich. 1990 waren es ausgerechnet die »GRÜNEN«, die die Zweistaatlichkeit konservieren wollten – und gegen die Vereinigung stimmten. Zur Bundestagswahl warben sie mit dem Spruch: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“. Das wollte ich nicht mittragen. So endete – nach zehn Jahren – meine Mitgliedschaft bei den »GRÜNEN«.
Mauerfall und deutsche Einheit
Von den »GRÜNEN« war ich enttäuscht. Aber ein politischer Traum hatte sich erfüllt: Die Mauer war offen, die Menschen in Deutschland waren nicht mehr getrennt. Umso mehr bedauerte ich später die Form, in der die staatliche Vereinigung vollzogen wurde.
Nie werde ich den Abend des 9. November 1989 und die darauffolgenden Tage vergessen. Die Menschen – aus Ost und West – weinten vor Glück. Ein Menschenstrom aus Potsdam zog nah bei unserem Haus vorbei. Wir wohnten damals in der Nähe der Glienicker Brücke, die Berlin und Potsdam verbindet. Immer wieder baten wir Fußgänger zu uns herein. Es war eine unglaubliche Atmosphäre. Wir redeten miteinander, als seien wir seit Jahren vertraut. Wir gehörten ja „zusammen“.
Regionalismus und „nationale Frage“
In Deutschland ging es bei der „nationalen Frage“ um die Überwindung der deutschen Teilung. Anderswo war es umgekehrt. In den 70er Jahren war der Regionalismus in Europa neu aufgelebt. Minderheiten wollten sich vom Zentralstaat lösen – das war deren „nationale Frage“. So forderten z.B. die Inuit in Grönland ihre Unabhängigkeit von Dänemark. Mit Freunden und einigen Prominenten hatte ich das Grönland-Komitee gegründet. Dadurch lernte ich Redakteure der Zeitschrift wir selbst kennen. Auch sie waren »linke Leute von rechts« – aber anders als diejenigen, denen ich in den 70er Jahren begegnet war. 1983 entschloss ich mich, bei der Zeitschrift mitzuarbeiten. Mein erster Artikel behandelte den zehnten Jahrestag des Militärputsches in Chile. In den letzten Jahren erschien die Zeitschrift nur unregelmäßig und stellte elf Jahre nach dem Fall der Mauer ihr Erscheinen ganz ein. Politisch hatte sich die Zeitschrift bereits seit längerer Zeit „zurückentwickelt“. Die „Selbstkritik“ früherer Redaktionsmitglieder finden Sie hier.
„Neues Deutschland“ und „JUNGE FREIHEIT“
Anfang der 90er Jahre begegnete ich Dieter Stein, dem Chefredakteur der Jungen Freiheit. Die Zeitung verstand sich als „nationalkonservativ“. Doch die Suche nach dem Profil war noch lange nicht abgeschlossen. Zwischen 1994 und 1998 gab es in der Redaktion heftige Diskussionen über den zukünftigen Kurs. Daran beteiligte ich mich – auch mit eigenen Artikeln in der Zeitung. In einigen Beiträgen plädierte ich für einen „anderen Blick“ auf die damalige „Volkspartei des Ostens“ – die PDS (heute DIE LINKE).
Auf Wunsch der »sozialistischen Tageszeitung« Neues Deutschland verfasste ich 1998 zwei Beiträge zum Thema: „Wie national muss die Linke sein?“. Damit wollte die Redaktion eine Debatte in der PDS anstoßen – hatte aber nicht mit dem „beispiellosen Echo“ (Sebastian Prinz in: »Programmatische Entwicklung der PDS«, Wiesbaden 2010) nach meinem ersten Beitrag gerechnet. Die meisten Leserzuschriften waren zustimmend. Doch in der Führung der PDS war die Debatte umstritten. Die frühere stellvertretende Parteivorsitzende, Angela Marquardt, kündigte sogar das Abonnement der Zeitung. Sie hatte so ziemlich alles missverstanden. Daraufhin beschloss die Redaktion, meinen zweiten Beitrag „vorerst“ zurückzustellen. Dabei blieb es. Die Debatte war beendet.
Zwischenbemerkung: Etwas Ähnliches erlebte ich Ende 2014 mit der Zeitung »Junge Freiheit«. Auch dort wurde eine Debatte, die ein Beitrag von mir ausgelöst hatte, nach kurzer Zeit beendet. Der ursprünglich vorgesehene zweite Beitrag wurde nicht mehr gedruckt.
Der einstige Fernsehmoderator und spätere Hörfunkdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), Johann Michael Möller, vertrat später die Auffassung, die Debatte im »Neuen Deutschland« sei keine „Kopfgeburt“ der Redakteure gewesen, sondern habe einer „latenten Stimmung“ in der PDS Rechnung getragen.
Denken in „Schubladen“
Über die Debatte im »Neuen Deutschland« berichteten auch andere Medien. Die Tatsache, dass in einer linken Zeitung wochenlang über die Nation diskutiert worden war, erschien vielen Journalisten bemerkenswert. Einige von ihnen wollten die Debatte skandalisieren, indem sie den Ort der Veröffentlichung kritisierten – und nicht den Inhalt. Man warf mir vor, in der „falschen“ Zeitung publiziert zu haben. Für die einen war das die »Junge Freiheit«, für die anderen das »Neue Deutschland«. Es ging um „Schubladen“.
Wenn mehr über „Schubladen“ als über den Inhalt nachgedacht wird, bleiben die Themen auf der Strecke. Das ist einer der Gründe, warum meine Ehefrau Nina und ich auf die Idee kamen, nach neuen Formen der Begegnung und des Meinungsaustausches zu suchen. So kam es zur Eröffnung des Kohlenkellers in unserem Haus. Hier ist Raum für viele Themen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Deutschland ist seit 1990 vereint, die Wunden der Teilung sind weitgehend verheilt. Wir sind zu einem Einwanderungsland geworden – in einer globalisierten Welt, in der nationalstaatliche Konzepte anscheinend an Bedeutung verlieren. Umso wichtiger ist eine Debatte über das, was eine Gesellschaft zusammenhält. Damit stellt sich auch die Frage unseres nationalen Selbstverständnisses neu.
Welches Fundament braucht eine moderne, für Zuwanderer offene Gesellschaft, die sich solidarischen und demokratischen Zielen verpflichtet fühlt?