Als Jugendlicher trĂ€umte ich davon, zur See zu fahren. Das lag auch an den Liedern von Hans Albers (âNimm mich mit, KapitĂ€nâ), Lale Andersen (âBlaue Nacht am Hafenâ) und Freddy Quinn (âJunge, komm bald wiederâ), die ich schon als Kind gern gehört hatte â und die mich noch heute anrĂŒhren. Der UFA-Film âGroĂe Freiheit Nr. 7â (mit Hans Albers) hatte meine Sehnsucht noch verstĂ€rkt.
Die romantische Vorstellung von der Seefahrt und allem, was damit zusammenhĂ€ngt, trieb mich schon frĂŒh in meiner Heimatstadt Oldenburg zum Hafen und zu den Frachtschiffen, die dort angelegt hatten.
Oldenburgs alter Stadthafen
Der Oldenburger Hafen ist durch KĂŒstenkanal, Dortmund-Ems-Kanal und Rhein-Herne-Kanal mit dem Rhein sowie durch Hunte und Weser mit der Nordsee verbunden. Deshalb laufen nicht nur Binnenschiffe, sondern auch Seeschiffe bzw. KĂŒmos (KĂŒstenmotorschiffe) den Oldenburger Hafen an. Die Oldenburger bezeichnen ihren Stadthafen als âStauâ. So heiĂt auch die StraĂe, die das Gebiet des Stadthafens umschlieĂt. Doch âgestautâ wird hier schon lange nichts mehr.
Der Oldenburger Stadthafen war fĂŒr mich ein Ort der Sehnsucht gewesen. Doch das ist lange her. Ende 1977, im Alter von 20 Jahren, verlieĂ ich meine Heimatstadt. Von dem, was mich einst faszinierte, ist heute nichts mehr erhalten. Die KrĂ€ne und LagerhĂ€user sind verschwunden. BĂŒrogebĂ€ude mit glatten Fassaden und Restaurants bestimmen jetzt das Bild. Nur die Kaimauer, auf der ich frĂŒher saĂ oder stand, erinnert mich daran, wie es im alten Stadtafen zuging, als hier Frachtschiffe entladen wurden. In den 1980er Jahren gaben die Lager- und Umschlagbetriebe den Standort auf. Damit ging auch das Milieu verloren, das sich im Umfeld des alten Stadthafens entwickelt hatte.


Dieses Milieu lernte ich in meiner Jugendzeit durch die TĂ€tigkeit im Hafen kennen. An die Menschen, denen ich dort in den Jahren 1973 bis 1977 begegnet bin, denke ich gerne zurĂŒck. Viele von ihnen hatten das Herz auf dem rechten Fleck.
Meine Zeit als Hafenarbeiter
Im April 1973 arbeitete ich erstmals in einem der Lager- und Umschlagbetriebe mit, die am alten Stadthafen ansĂ€ssig waren. Es handelte sich um eine Niederlassung der âMIDGARD Deutsche Seeverkehrs-AGâ, die bald danach als âRHENUS-MIDGARDâ firmierte. Deren LagerhĂ€user befanden sich an der HafenstraĂe und an der GĂŒterstraĂe. Das GebĂ€ude an der Hafenstr. 7-8 war zuvor im Besitz der Firma âRoelofs & Co. GmbHâ gewesen.


Zu dieser Zeit besuchte ich die neunte Klasse der Graf-Anton-GĂŒnther-Schule. Wenige Monate spĂ€ter musste ich die Schule verlassen. Ich hatte nicht einmal den Hauptschul-Abschluss erreicht. Aber das war mir egal. In der Welt, in der ich leben wollte, spielte das keine Rolle. Das glaubte ich jedenfalls. Mehr unter: Graf-Anton-GĂŒnther-Schule.
Bisher hatte ich die kleine Welt des Oldenburger Stadthafens nur oberflÀchlich kennengelernt. Nun lernte ich diese Welt etwas genauer kennen.
Papierlager
Anfangs wurde ich im Papierlager eingesetzt. Es befand sich in einer ehemaligen Scheune an der GĂŒterstraĂe, Ecke Stau. Gleich daneben stand ein dreigeschössiger Neubau mit einer Backstein- bzw. Klinkerfassade. Es handelte sich um ein Bordell, das mit dem Begriff âEROS-CENTERâ um Kunden warb. Das Bordell war im Jahr zuvor – im Januar 1972 – eröffnet worden. Hier waren rund 20 Frauen tĂ€tig. Die meisten von ihnen hatten ihr Gewerbe vorher in anderen StĂ€dten ausgeĂŒbt. Das Bordell verfĂŒgte ĂŒber einen „Kontakthof“, der von auĂen nicht einsehbar war, um die GeschĂ€ftsanbahnung mit den Freiern zu erleichtern.
Wer im Papierlager tĂ€tig war, hatte bald ein nachbarschaftliches VerhĂ€ltnis zu den Frauen. Einer meiner Kollegen im Papierlager hieĂ Peter Staschen. Er war gelernter Tankwart. Wir hatten die Aufgabe, Papierrollen in LKWs zu verladen. Das Lager unterstand Hans R., einem ehemaligen Knacki, mit dem ich mich anfangs nicht verstand. Das Ă€nderte sich erst, nachdem ich zu den LagerhĂ€usern an der HafenstraĂe versetzt worden war.
StĂŒckgut
An unserem Kai an der HafenstraĂe waren nur Schiffe mit StĂŒckgut zu entladen. Dabei handelte es sich ausschlieĂlich um Sackware mit KunstdĂŒnger oder Getreidemehl. Im Herbst und Winter hatten wir hin und wieder auch Schiffe mit BaumstĂ€mmen zu beladen. Das Holz stammte aus den WĂ€ldern des Oldenburger Umlandes und war fĂŒr Skandinavien bestimmt.


Beim Verladen der BaumstĂ€mme war auf die StabilitĂ€t der Fracht zu achten, um das Schiff nicht zu gefĂ€hrden. Bei schlechter LadequalitĂ€t war die Gefahr groĂ, dass das Schiff kentern oder die Fracht verlieren wĂŒrde. Jeder Baumstamm wurde von zwei MĂ€nnern mit Hilfe kleiner Spitzhacken in die richtige Position gezogen. Die Spitzhacke musste krĂ€ftig in das Holz eingeschlagen werden, damit sie beim Ziehen des Baumstammes nicht herausrutschte. Mir passierte das einige Male, so dass ich unsanft auf den RĂŒcken fiel. Zum GlĂŒck ging ich dabei niemals ĂŒber Bord.
Stundenlohn & Akkordlohn
Die jĂŒngeren Hafenarbeiter, die bei âRHENUS-MIDGARDâ Umschlagarbeiten ausfĂŒhrten, waren in der Regel Tagelöhner. Der Zeitlohn betrug 5,27 DM brutto pro Stunde bzw. 42,16 DM brutto pro Tag (bei acht Arbeitsstunden zzgl. Pausen). Davon wurden rund 30 DM netto ausgezahlt. Das war schon damals wenig. Mehr verdienen konnte man nur, wenn nach Leistung (Akkord) entlohnt wurde. Das war der Fall, wenn Sackware mit Kunst- bzw. MineraldĂŒnger oder mit Getreidemehl zu entladen war.
Bei der Sackware hatten wir es meistens mit Thomasmehl, einem Abfallprodukt der Eisen- und Stahlerzeugung, zu tun. Thomasmehl war in PapiersĂ€cken zu 50 kg, Getreidemehl (âAuroraâ) in PapiersĂ€cken zu je 60 kg verpackt. Unangenehm waren die Kunststoff-SĂ€cke, die Harnstoff enthielten. Sie wogen 60 kg, waren aber wegen der Plastikhaut schwer zu greifen. AuĂerdem kamen die HĂ€nde stĂ€ndig mit dem Harnstoff in Kontakt, weil die SĂ€cke undicht waren. Dann brannte es auf der Haut. Handschuhe hĂ€tten nicht geholfen, weil man die PlastiksĂ€cke dann kaum hĂ€tte greifen können.
Im Akkordlohn konnte man mehr als das Doppelte des Stundenlohns verdienen. Deshalb freute ich mich, als mich unser Vorarbeiter, Heinz Schönnagel, eines Morgens einer Akkord-Kolonne zuwies. Die Fracht eines Binnenschiffes, das 200 t Thomasmehl (4.000 SĂ€cke zu je 50 kg) geladen hatte, sollte an diesem Tag in acht GĂŒter-Waggons zu je 25 t umgeladen werden. Jeder Waggon musste mit 500 SĂ€cken beladen werden, doch die Akkord-Kolonne war nicht vollzĂ€hlig. Ein Kollege war nicht erschienen. Ich sollte ihn ersetzen.
Nach dem Jugendarbeitsschutzgesetz hĂ€tte ich in der Akkord-Kolonne nicht mitarbeiten dĂŒrfen, da ich erst 16 Jahre alt war. Doch das spielte keine Rolle.
Mein Platz in der Kolonne
Unsere Akkord-Kolonne bestand aus fĂŒnf MĂ€nnern: zwei im Schiff, zwei auf der Rampe am Waggon und einer, der im Waggon die Sackkarre fuhr. Die beiden MĂ€nner im Schiff waren âEinzelkĂ€mpferâ. Bei 4.000 SĂ€cken hatte jeder von ihnen 2.000 SĂ€cke allein zu tragen. Sie stapelten jeweils acht, neun und acht SĂ€cke, also insgesamt 25 SĂ€cke, zu einem âHievâ, der vom Kran auf die Rampe des Waggons befördert wurde. Die beiden MĂ€nner auf der Rampe luden jeden Sack zu zweit auf eine Karre, die vom fĂŒnften Mann gefahren wurde. Die Karre musste so geschickt abgekippt werden, dass in jedem Waggon 20 Hievs, also 500 SĂ€cke, Platz fanden. Das sah einfacher aus als es war. Die Karre wurde in der Regel von Willy, einem Ă€lteren Kollegen, gefahren. Mein Platz war auf der âRampeâ.
Gemeinsam mit einem Kollegen packte ich die SĂ€cke auf die Sackkarre. Nach fast 1.500 SĂ€cken machte ich âschlappâ: Wir hatten fĂŒr den dritten Waggon gerade den letzten Hiev angenommen, als mir schwindelig wurde, so dass ich das Gleichgewicht verlor. Ich stĂŒrzte von der Rampe des Waggons auf die Erde. Kurz danach reichte mir der Vorarbeiter, Heinz Schönnagel, eine Zigarette: eine »Reval« ohne Filter. Das empfand ich als Ritterschlag. Ich durfte bleiben. An diesem Tag dauerte es lĂ€nger als sonst, bis die 4.000 SĂ€cke verladen waren.
Am nĂ€chsten Tag wurde ich von den Kollegen âgetauftâ. Ohne Vorwarnung packten sie mich an HĂ€nden und FĂŒĂen, um mich bekleidet ins Hafenbecken zu werfen. Als ich triefend nass wieder vor ihnen stand, konnten sie sich vor Lachen kaum halten. Erst jetzt gehörte ich wirklich âdazuâ â obwohl ich nur der âErsatzmannâ war.
Exkurs: Thomasmehl
Im Schiff, auf der Rampe und im Waggon waren die Arbeiter durchgehend dem Staub des Thomasmehls ausgesetzt. Umso wichtiger wĂ€re es gewesen, eine Schutzmaske zu tragen, denn Thomasmehl ist mit Schwermetallen, vor allem Chrom, belastet. FĂŒr den Einsatz von Thomasmehl galten schon damals strenge Schutzvorschriften. Doch sie spielten praktisch keine Rolle. Eine Schutzmaske hĂ€tte das Atmen erschwert, so dass die gewĂŒnschte Arbeitsleistung kaum möglich gewesen wĂ€re.

Wie gefĂ€hrlich Thomasmehl sein kann, erfuhren wir am Beispiel unseres Kollegen „Fuzzi“ Becker (rechts im Bild). Er drohte eines Tages im Schiffsraum zu ersticken. Sein Hals war derart stark angeschwollen, dass er kaum noch atmen konnte. Der Arzt musste zum Messer greifen. Angeblich hatte der schlechte Zustand seiner ZĂ€hne zusammen mit dem Thomasmehl die Schwellung verursacht. Dem Kollegen Fuzzi wurden alle ZĂ€hne gezogen. Danach sah Fuzzi wie sein eigener GroĂvater aus. Das lag an dem eingefallenen Mund. Fuzzi hatte einigen Spott zu ertragen (Bild P. Kreier).
Schlafen im Lagerschuppen
Der Akkordlohn war schwer verdientes Geld. Umso unbegreiflicher war es, wie einige Hafenarbeiter mit dem Geld umgingen, das ihnen jeden Abend ausgezahlt wurde. Manche von ihnen waren schon am nĂ€chsten Morgen âblankâ. Wer nachts den Weg nicht nach Hause fand oder wegen Mietschulden kein Zuhause (oft nur ein möbliertes Zimmer) mehr hatte, suchte sich seinen Schlafplatz in dem Lagerschuppen, der uns als Aufenthaltsraum zur VerfĂŒgung stand. Pappen dienten als Matratze. Eine Zeitlang gehörte auch ich zu den SchlafgĂ€sten â wenn auch aus anderen GrĂŒnden.


Die begehrtesten SchlafplĂ€tze befanden sich im hinteren, unbeleuchteten Teil des Schuppens. Im Raum davor lagen diejenigen, die weniger privilegiert waren. Ich war einer von ihnen. Mein Schlafplatz lag neben der TĂŒr, so dass ich regelmĂ€Ăig von den âSpĂ€theimkehrernâ im Schlaf gestört wurde. Entsprechend groĂ war die MĂŒdigkeit, die ich tagsĂŒber empfand.
Badeanstalt an der HuntestraĂe
Den Arbeitern standen im Hafen nur Waschbecken zur VerfĂŒgung. Wer sich nicht zu Hause baden oder duschen konnte, suchte am Samstag die alte StĂ€dtische Badeanstalt an der HuntestraĂe auf. Dort gab es Kabinen mit Badewannen. Damals verfĂŒgten noch lĂ€ngst nicht alle Wohnungen in Oldenburg ĂŒber ein Badezimmer. Die Badeanstalt verfĂŒgte auch ĂŒber ein kleines Hallenbad. Darin hatte ich als Kind Schwimmen gelernt. In der Zeit, in der ich die Graf-Anton-GĂŒnther-Schule besuchte, fand hier im Winter der Sport- bzw. Schwimmunterricht statt.
Wie schnell man sich an Dreck und Gestank gewöhnen kann, erfuhr ich bei meinem kurzzeitigen Einsatz in einem anderen Umschlagbetrieb, der weiter östlich gelegen war. Dorthin war ich gewechselt, als es bei „RHENUS-MIDGARD“ nichts zu tun gab. In dem neuen Betrieb hatte ich die Aufgabe, PapiersĂ€cke mit Fischmehl zu fĂŒllen. Die PapiersĂ€cke band ich an einen Trichter, aus dem das Fischmehl herauslief. Es ging viel Fischmehl „daneben“, so dass ich kniehoch in der stinkenden Masse stand. An einem Abend, an dem ich mit einer jungen Frau verabredet war, sprĂŒhte ich mich krĂ€ftig mit einem Deodorant ein. Ich wollte den Geruch des Fischmehls ĂŒberdecken. Aber das war ein Fehler. Die Kombination von Fischmehl und ParfĂŒm war fĂŒr „normale Nasen“ unertrĂ€glich. Aber das empfand ich nicht so. Meine Nase war an Gestank gewöhnt.
Meine Kollegen im Hafen
Meine Kollegen waren alle Ă€lter als ich: Peter Staschen, der immer einen Witz auf der Zunge hatte, August Hechler, der vorher als Maurer tĂ€tig war und ebenso wie ich fĂŒr Hans Albers schwĂ€rmte, Hans R., der zeitweise das Papierlager leitete, Klaus Schumann, der aus der DDR geflohen war, der zahnlose âFuzziâ Becker, mein Mitbewohner Rolf O., der spĂ€ter wegen âkaltblĂŒtigen Mordesâ verurteilt wurde, sowie Erich Salatzkat, Ronny, Willi, die Oltmann-BrĂŒder und viele andere, deren Namen ich vergessen habe.
Die Oltmann-BrĂŒder waren âArbeitsmaschinenâ. Einige von ihnen wohnten in Wardenburg, andere in einem der Dörfer, deren Namen mit â-fehnâ enden (Merkmal fĂŒr Siedlungen im Moor, die einst entwĂ€ssert worden waren). Die Oltmann-BrĂŒder erschienen nur an Tagen, an denen Schiffe im Akkord zu entladen waren. Der Stundenlohn kam fĂŒr sie nicht in Frage. Da gingen sie lieber ins Moor, um Torf zu stechen.
Wer bei RHENUS-MIDGARD lange beschĂ€ftigt war, konnte vom „Tagelöhner“ zum „Wochenlöhner“ aufsteigen. FĂŒr diese war Freitags der Zahltag. Einer dieser âWochenlöhnerâ war der verstorbene Erich Salatzkat. Er wohnte mit seiner Familie im ersten Stock eines GeschĂ€ftshauses am Markt 2, gegenĂŒber dem Rathaus. Manchmal lud er mich zu sich nach Hause zum Abendbrot ein. Ich erinnere mich an seine Ehefrau, an mehrere Kinder und an einen Schwiegersohn, der spĂ€ter einen Arbeitsunfall erlitt und eine hohe EntschĂ€digung erhielt, die zum Erwerb eines Hauses genutzt wurde. Ein anderer Wochenlöhner, an den ich mich lebhaft erinnere, war der ebenfalls verstorbene Karl. Er hatte ein Glasauge und verwaltete das âGiftlagerâ, das sich im Kellergewölbe eines SpeichergebĂ€udes befand. Karl besaĂ ein Pony und eine kleine Kutsche, in die er sich nach heftigem Alkoholgenuss fallen lieĂ. Das Pony brachte den Besitzer selbstĂ€ndig nach Hause.
Im Hafen waren auch viele Menschen tĂ€tig, deren Leben aus unterschiedlichen GrĂŒnden nicht gerade verlaufen war. Das zeigen beispielhaft die LebenslĂ€ufe der vier MĂ€nner, die ich nachfolgend beschreibe. Die MĂ€nner sind alle lĂ€ngst verstorben.
Der barmherzige âHannesâ
Im Lagerschuppen und auf dem HafengelĂ€nde sorgte Johannes Retzkowski, genannt âHannesâ, mit seinem Besen fĂŒr Ordnung. Er war Rentner und verdiente sich als Kalfaktor bei „RHENUS-MIDGARD“ mit kleinen Hilfsarbeiten ein Zubrot. âHannesâ war von Beruf Eisenbieger bzw. Eisenflechter gewesen.
Johannes Retzkowski bzw. âHannesâ wurde 1909 geboren und starb im Jahr 1995, wenige Tage vor seinem 86. Geburtstag. Von den zwölf Jahren des sogenannten âDritten Reichsâ hatte er sechs Jahre in Gefangenschaft verbracht. Er saĂ von Juni 1937 bis Juni 1938 in Vechta im GefĂ€ngnis und wurde von dort in das Konzentrationslager Buchenwald ĂŒberstellt. Erst im Sommer 1943 wurde Johannes Retzkowski aus dem KZ entlassen.
Ăber die GrĂŒnde, die zu seiner Inhaftierung bzw. zu der Einweisung in das KZ gefĂŒhrt hatten, sprach Johannes Retzkowski nicht mit uns. Nach den Regeln des NS-System galt er als âarbeitsscheuâ bzw. „asozial“. So steht es auf der Karteikarte, die im KZ Buchenwald angelegt wurde. âHannesâ musste deshalb auf der Kleidung den schwarzen Winkel tragen. FĂŒr die Kollegen war er das Gegenteil: fleiĂig und eine Seele von Mensch. âHannesâ wirkte zwar skurril, nahm aber alle fĂŒr sich ein, denn er hatte ein groĂes Herz.
Ich erinnere mich, dass „Hannes“ in einer Batterie von Eimern tagelang SchmutzwĂ€sche fĂŒr sich und die Kollegen einweichte. Das Waschergebnis war verblĂŒffend gut. Hin und wieder kochte „Hannes“ auch fĂŒr uns. Er bewohnte anfangs einen Schuppen auf dem HafengelĂ€nde. SpĂ€ter verfĂŒgte er ĂŒber WohnrĂ€ume im Helmsweg und spĂ€ter in der NelkenstraĂe in HĂ€usern, die sich in keinem guten Zustand befanden. Dort nahm der barmherzige „Hannes“ immer wieder Personen auf, die bedĂŒrftig waren.
Am Neujahrsmorgen 1974 servierte uns âHannesâ im hinteren Teil der Scheune, in der sich das Papierlager befand, eine Suppe, die er aus Hasenpfoten gekocht hatte. Wir hatten hier die Silvester-Nacht zugebracht, nachdem wir eine kirchliche Veranstaltung besucht und uns dort kostenlos sattgegessen hatten. Die MĂ€nner hatten sich erst geziert, dann aber von mir ĂŒberreden lassen. Allen war das Geld ausgegangen, weil aufgrund des Winterwetters keine Schiffe im Hafen lagen. Es war klirrend kalt. Der Ofen, der sich in dem Raum befand, wurde von uns mit Holz befeuert. âHannesâ war nicht mitgekommen, als wir die kirchliche Veranstaltung besuchten. Er hatte begonnen, die Suppe zu kochen. Zuvor hatte er eine Flasche Schnaps aufgetrieben und sie wĂ€hrend des Kochens und in der Nacht – wĂ€hrend wir schliefen – geleert. Es lag wohl am Schnaps, dass im Topf alles gelandet war, was âHannesâ unter die HĂ€nde gekommen war. Sogar ein Fetzen Stoff schwamm darin. Einer der MĂ€nner hatte den Fetzen plötzlich im Mund. Das minderte aber nicht unseren Appetit.
Kollege Hans R.
Hans R. (verstorben) war Anfang 1973 Chef des Papierlagers bei „RHENUS-MIDGARD“. Er war von Beruf Bergmann und zu der Zeit, als ich ihm unterstand, 29 Jahre alt. Hans R. hatte eine mehrjĂ€hrige Haftstrafe verbĂŒĂt und war danach nicht in den erlernten Beruf zurĂŒckgekehrt. Stattdessen war er zunĂ€chst eine Zeitlang mit einer Schaustellerfamilie von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gereist. Im Jahr 1971 war Hans R. als Tagelöhner zu „RHENUS-MIDGARD“ gewechselt und schon bald in der betrieblichen Hierarchie aufgestiegen. Ihm wurde erst die Leitung des Seifenlagers und spĂ€ter auch die Leitung des Papierlagers anvertraut. Da ich in den ersten Tagen im Papierlager eingesetzt wurde, war er in dem Hafenbetrieb mein erster Vorgesetzter.

Hans R. erledigte die Arbeit zur vollen Zufriedenheit der GeschĂ€ftsleitung. Im Herbst 1973 verlobte sich Hans R. mit Heike N. aus Rastede. Er wollte sich eine âbĂŒrgerliche Existenzâ aufbauen. Doch die Beziehung zu Heike N. ging nach wenigen Monaten in die BrĂŒche. Und der Arbeitgeber entband ihn von der Funktion als Lagerverwalter. Lag das daran, dass sich das Verhalten von Hans R. nach der âEntlobungâ geĂ€ndert hatte? Oder daran, dass der Arbeitgeber erst jetzt von der Vorstrafe erfahren hatte? Der Traum von der âbĂŒrgerlichen Existenzâ war jedenfalls geplatzt. Danach verĂŒbte Hans R. etliche EinbrĂŒche, u.a. auch bei seinem bisherigen Arbeitgeber, der Firma „RHENUS-MIDGARD“. Das fĂŒhrte die Polizei auf seine Spur.
Aufgrund der EinbrĂŒche wurde Hans R. zu einer dreijĂ€hrigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er in der JVA Hannover absaĂ. Als nach einigen Monaten erstmals fĂŒr ihn die Möglichkeit eines mehrstĂŒndigen Hafturlaubs bestand, nahm er Kontakt mit mir auf. Hans R. benötige fĂŒr den Hafturlaub eine âBezugspersonâ und fragte mich, ob ich dafĂŒr zur VerfĂŒgung stĂŒnde. Ich willigte ein. Per Anhalter fuhr ich nach Hannover. Nach einem GesprĂ€ch mit dem Sozialarbeiter der Anstalt konnte ich Hans R. in Empfang nehmen. Ich verpflichtete mich, den Gefangenen abzuholen, zu begleiten und am Abend zurĂŒckzubringen. Gemeinsam zogen wir um die HĂ€user. Hans R. nutzte die Kontakte, die er im GefĂ€ngnis geknĂŒpft hatte, fĂŒr Besuche rund um den Steinplatz. Auf den Haft-Ausgang folgte ein Hafturlaub fĂŒr ein Wochenende. Anfang der 1980er Jahre – ich lebte inzwischen in Berlin – verloren wir uns aus den Augen.
Kollege Rolf O.
Auch Rolf O. ist inzwischen verstorben. Er war von Beruf Maurer und 16 Jahre Ă€lter als ich. Ich lernte Rolf O. bei âRHENUS-MIDGARDâ einige Monate vor Beginn meiner Berufsausbildung kennen. Rolf O. war Witwer und Vater von zwei Kindern, die jedoch getrennt von ihm in einem Kinderheim lebten. Nachdem ich 18 Jahre alt geworden war, zogen Rolf O. und ich gemeinsam in eine Wohnung in der SchulstraĂe 9 im Stadtteil Osternburg. Die Wohnung lag im Erdgeschoss. Ohne Badezimmer bzw. Dusche. Waschen konnte man sich nur in der KĂŒche.
Als Mitbewohner erlebte ich Rolf O. von einer Seite, die ich bei ihm als Kollegen vorher nicht bemerkt hatte. Rolf O. trank mehr, als ihm gut tat. AuĂerdem erzĂ€hlte er mir jeden Morgen die gleiche Geschichte seiner verstorbenen Ehefrau und seiner beiden Kinder, die ihm aufgrund seiner Alkoholsucht vom Jugendamt weggenommen worden waren. Rolf O. schien unter diesem Verlust sehr zu leiden.
Unsere Wohngemeinschaft endete, nachdem Rolf O. mir einen Bankscheck gestohlen, meine Unterschrift gefÀlscht und mein Konto geleert hatte. Daraufhin schloss ich ihn aus der Wohnung aus. Ein paar Tage spÀter sah mein Vermieter, dass Rolf O. in der Dunkelheit vor dem Haus stand und mich durch ein Fenster beobachtete. In der Nacht hörte ich GerÀusche. Rolf O. wollte das Fenster zu dem Zimmer, das er bewohnt hatte, aufbrechen. Da Rolf O. zu viel getrunken hatte, geschah sein Einbruchsversuch nicht gerÀuschlos. Ich wachte auf und konnte Rolf O. vertreiben.
Knapp ein Jahr spĂ€ter hatte Rolf O. woanders mehr Erfolg. Anfang 1977 berichtete die Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ), dass Rolf O. gestanden hatte, einen Rentner mit den HĂ€nden gewĂŒrgt, danach mit dem GĂŒrtel erdrosselt und anschlieĂend ausgeraubt zu haben. Ihm wurden auch zahlreiche EinbrĂŒche nachgewiesen. Er kam in Oldenburg in Untersuchungshaft.

Als ich einige Wochen spĂ€ter die Haftanstalt aufsuchte, um einen Gefangenen zu besuchen, begegnete ich Rolf O. zum letzten Mal. Ich saĂ allein im Besucherraum, als plötzlich die TĂŒr aufging und Rolf O. ohne Begleitung eines Aufsehers mit einem Besen herein spazierte. Ich rechnete sofort mit einem Angriff. Doch Rolf O. fegte nur den FuĂboden. Keiner von uns beiden sprach ein Wort.
Rolf O. wurde Ende 1977 verurteilt. Das Gericht sprach von âkaltblĂŒtigemâ Mord, verurteilte ihn jedoch nicht zu lebenslangem, sondern zu 15-jĂ€hrigem Freiheitsentzug. Man ging davon aus, dass Rolf O. zur Tatzeit unter Alkoholeinfluss gestanden hatte. In nĂŒchternem Zustand hatte ich Rolf O. als braven Kerl erlebt. War er nur deshalb zum Trinker geworden, weil er seine Ehefrau verloren hatte? War das die ErklĂ€rung, warum er schlieĂlich sogar getötet hatte?
Kollege Klaus S.
Klaus S. (verstorben) war aus der DDR geflohen und hatte sich dort angeblich als Boxer einen Namen gemacht. Klaus S. war mit Rita (ebenfalls verstorben) verheiratet. Rita war als Prostituierte tĂ€tig, wurde von manchen MĂ€nnern aber verĂ€chtlich als âalte Fregatteâ bezeichnet. Sie war 1973 erst Mitte 40, sah aber aufgrund der fehlenden ZĂ€hne deutlich Ă€lter aus: nicht nur verlebt, sondern verbraucht. Doch auch Rita hatte ihr Herz oft am rechten Fleck.
Klaus S. war im Mai 1973 wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er hatte sich monatelang durch das Oldenburger Rotlicht-Milieu geprĂŒgelt. Der Polizei war es erst spĂ€t gelungen, ihn zu verhaften. Ihr Einsatz im Jahr 1972 soll unter den damaligen Kollegen am Hafen groĂe Heiterkeit ausgelöst haben. So wurde es mir erzĂ€hlt.
An einem Tag, an dem wieder einmal „Thomasmehl“ entladen wurde, seien zwei Polizisten erschienen, um Klaus S. zu verhaften. Einen Arbeiter, der gerade aus dem Frachtraum des Schiffes gestiegen war, hĂ€tten sie gefragt, wo sie Klaus S. finden könnten. Das Gesicht des Arbeiters sei durch das Thomasmehl geschwĂ€rzt gewesen. Deshalb hĂ€tten die Polizisten nicht gemerkt, dass es Klaus S. war, der vor ihnen stand. Er hĂ€tte die Polizisten zu den weit entfernt liegenden LagerhĂ€usern geschickt. WĂ€hrend die Polizisten in die angegebene Richtung gelaufen seien, habe sich Klaus S. in der entgegengesetzten Richtung aus dem Staub gemacht. Erst Wochen spĂ€ter sei er gefasst worden.
Bei der UrteilsverkĂŒndung blieb ihm die zunĂ€chst angedrohte Sicherheitsverwahrung erspart. Kein âAus fĂŒr Klausâ. Im Gegenteil: Klaus S. wurde bereits Ende 1974 wieder aus dem GefĂ€ngnis entlassen. Doch mit der Freiheit kam er nicht zurecht. Er prĂŒgelte sich erneut durch das Rotlicht-Milieu und vergriff sich auch an Frauen, die dort tĂ€tig waren. Im Jahr 1976 fuhr Klaus S. erneut âeinâ. Diesmal fĂŒr sehr lange Zeit.
Exkurs: Dina N. und die Sucht
Der „SchlĂ€ger“ Klaus S. besaĂ auch eine fĂŒrsorgliche Seite. Eines Tages fragte er mich, ob ich einer Frau, die gerade eine kaufmĂ€nnische Umschulung begonnen hatte, behilflich sein könne. Die Frau hieĂ Dina N. und war eine attraktive Erscheinung. Das lag auch an ihrer eleganten Garderobe. Wenn ich mit Dina N. durch die FuĂgĂ€ngerzone in Oldenburg flanierte, zog sie die Blicke auf sich.
Als ich Dina N. das erste Mal besuchte, sollte es um BuchungssĂ€tze gehen. Allerdings stand ich selbst noch am Anfang meiner Ausbildung und besaĂ erst geringe kaufmĂ€nnische Kenntnisse (siehe Exkurs: „Kaufmann statt Seemann“). Aber das spielte keine Rolle, denn Dina N. hatte ein viel gröĂeres Problem: ihre Alkoholsucht. Dina N. war verheiratet gewesen, doch die Ehe war nach einem Jahr zerbrochen. War das eine Folge ihrer Alkoholsucht gewesen, oder war die Sucht entstanden, weil die Ehe zerbrochen war?
Die Hilfe, die Dina N. damals benötigt hĂ€tte, fand sie bei mir nicht. Als sie eines Tages nicht die TĂŒr öffnete, rief ich die Polizei. Dina N. wurde bewusstlos aufgefunden. Sie hatte versucht, mit der Einnahme von Schlaftabletten ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die Ă€rzliche Hilfe kam zu spĂ€t. Einen Tag nach der Einlieferung ins Krankenhaus starb Dina N. Sie wurde nur 31 Jahre alt.
Vorarbeiter Heinz Schönnagel
Unser Vorarbeiter bei „RHENUS-MIDGARD“, Heinz Schönnagel (verstorben), war nicht nur mein Vorgesetzter, sondern auch ein âvĂ€terlicher Freundâ gewesen. Seine AutoritĂ€t wurde von allen Arbeitskollegen anerkannt, denn sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Er hatte sich immer wieder fĂŒr ihre Interessen eingesetzt. Allerdings wurde ihm das nicht immer gedankt. Mir erschien er wie eine Mischung aus John Wayne und Gary Cooper (â12 Uhr Mittagsâ), zumal er dem Letztgenannten auch Ă€uĂerlich Ă€hnelte.
Heinz Schönnagel hielt oft seine Hand schĂŒtzend ĂŒber mich â trotz genĂŒgend eigener Sorgen: Nachdem sein einziges Kind tödlich verunglĂŒckt war, verlor er durch eine Krankheit auch frĂŒh seine Ehefrau. Er verbrachte die letzten Arbeitsjahre an der Lkw-Waage des Hafenbetriebs âRHEIN-UMSCHLAGâ. Er war ein ungewöhnlicher Vorgesetzter und guter Kamerad. Wenige Tage nach Beginn meiner beruflichen Ausbildung, im September 1974 (siehe Exkurs: „Kaufmann statt Seemann“), ĂŒberschritt sein Wohlwollen sogar die Grenze des Erlaubten.
Ich hatte das HafengelĂ€nde aufgesucht, um die frĂŒheren Kollegen zu treffen. Als Heinz Schönnagel mich sah, verpasste er mir lautstark einen âAnschissâ: Wo ich die letzten Tage gesteckt hĂ€tte, und warum ich den Lohn nicht abholen wĂŒrde? Die Leute im Kontor wĂŒrden schon fragen!
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was Heinz Schönnagel meinte: Er hatte mich eine Woche lang jeden Morgen als Tagelöhner gemeldet, obwohl ich nicht anwesend gewesen war. Heinz Schönnagel wusste, dass ich mich in der Ausbildung befand und deshalb nicht im Hafen arbeiten konnte. Wenn er mich dennoch morgens als Arbeiter gemeldet hatte, war das Betrug. Das war fĂŒr ihn nicht ungefĂ€hrlich.
âAb ins Kontorâ, befahl er mit donnernder Stimme. Dort wurde mir der Lohn, den ich nicht verdient hatte, tatsĂ€chlich ausgezahlt. Wohl fĂŒhlte ich mich dabei nicht. Warum hatte Heinz Schönnagel das getan? Ich habe nie gewagt, ihn zu fragen. Heinz Schönnagel starb 1992. Er wurde nur 67 Jahre alt.
Exkurs: Kaufmann statt Seemann
Mein Wunsch, zur See zu fahren, rĂŒckte in greifbare NĂ€he, als ich 1973 die Schule nach der neunten Klasse verlieĂ. Ich hĂ€tte als Deckshelfer auf einem Frachter anheuern können. Das erforderliche Seefahrtbuch beantragte ich ohne Wissen meiner Eltern. Da ich minderjĂ€hrig war, lehnte die Heuerstelle Brake den Antrag ab. Ich begrub den Wunsch, zur See zu fahren.
Einige Monate spĂ€ter wollte ich Journalist werden. Ein Mann, der selbst Journalist war und fĂŒr die Nachrichten-Agentur REUTERS in London arbeitete, hatte mir dazu geraten. Den Kontakt verdankte ich meinen politischen AktivitĂ€ten. Der Journalist sah nicht den Seemann, sondern den kĂŒnftigen Kollegen in mir. Bei der Oldenburger âNordwest-Zeitungâ (NWZ) bewarb ich mich fĂŒr ein Volontariat, doch ich wurde abgelehnt (Bild).
Der Chefredakteur der NWZ, Bodo Schulte, hielt mich fĂŒr zu jung und unerfahren. Das schrieb er mir. Er riet mir, zunĂ€chst eine kaufmĂ€nnische Ausbildung zu absolvieren (Bild). Diesen Rat befolgte ich. Die Eduard Beyer Glasformenfabrik bot mir trotz des fehlenden Schul-Abschlusses an, mich zum Kaufmann auszubilden.

Der junge Firmeninhaber, Frank Backmann, war kein âPfeffersackâ, sondern ein Chef, der mit mir hin und wieder ĂŒber Gott und die Welt sprach. Er war neuen Themen gegenĂŒber aufgeschlossen und besaĂ die FĂ€higkeit, ĂŒber sich selbst zu lachen. Vielleicht verdankte er dies auch den Lehrern der Waldorf-Schule, die er bis zum Abitur besucht hatte. An ihn denke ich ebenso respektvoll zurĂŒck wie an meinen Berufsschullehrer, Hermann de Millas, fĂŒr den der Beruf ganz offensichtlich eine Berufung gewesen war. Hermann de Millas war ein âMenschenfĂ€ngerâ. An meinem 50. Geburtstag sahen wir uns wieder.
Mit der kaufmĂ€nnischen Ausbildung waren die beruflichen Weichen fĂŒr mich gestellt. Ich wurde Kaufmann und bin es geblieben. FĂŒnf Jahre nach Beendigung der Ausbildung grĂŒndete ich in Berlin ein Unternehmen.
Meine Sehnsucht nach allem, was mit der Welt der HĂ€fen zu tun hatte, blieb bestehen. Auch in der Zeit der Berufsausbildung hielt ich mich regelmĂ€Ăig im Stadthafen und dessen Umfeld auf. Hier traf ich die Kollegen von âRHENUS-MIDGARDâ und andere Personen, mit denen ich vertraut war. Und wenn ausnahmsweise an einem Samstag ein Schiff zu entladen und Not am Mann war, half ich weiterhin als âErsatzmannâ aus.
Lokal âHOLSTEN-ECKâ


Die TĂ€tigkeit im Hafen fĂŒhrte mich 1973 in das Lokal âHOLSTEN-ECKâ. Es befand sich im âKaiserhausâ am Stau, Ecke KaiserstraĂe. Dort kam ich in Kontakt mit den MĂ€nnern, deren Frauen am Stau und in den umliegenden StraĂen tĂ€tig waren. Hin und wieder kamen die Frauen in das Lokal, hielten sich hier aber nur kurz auf. Meine Arbeitskollegen und ich gehörten zu den StammgĂ€sten des Lokals. Die Inhaber waren Franz Scharmann (1926 – 1993) und sein Sohn Kurt Scharmann (1947 – 2011). Vater und Sohn sorgten dafĂŒr, dass alles mit rechten Dingen zuging. Es herrschte eine familiĂ€re AtmosphĂ€re, weil sich viele GĂ€ste kannten.
Im âHOLSTEN-ECKâ war auch die 28-jĂ€hrige Ingrid S. tĂ€tig. Sie war bildschön und beeindruckte mich mit ihrem Charme. Aufgrund der dunklen Haare und der schwarzen Brille, die sie trug, Ă€hnelte Ingrid S. der damaligen SĂ€ngerin Nana Mouskouri. Ende der 1970er Jahre beendete Ingrid S. ihre TĂ€tigkeit im âHOLSTEN-ECKâ. Sie grĂŒndete einen Kurierdienst.

Ingrid S. war eine tapfere Frau, die viel erlebt und sich nie geschont hatte. Das erklĂ€rt vielleicht, warum ihr erster Ehemann eifersĂŒchtig ĂŒber sie wachte. Ingrid S. hielt das irgendwann nicht mehr aus. Mit einem anderen Mann an ihrer Seite fand sie das GlĂŒck, das sie zuvor vermisst hatte. Doch dieses GlĂŒck wĂ€hrte nicht lange. Ingrid S. war bereits Witwe, als sie schwer erkrankte und die bisherige Wohnung aufgeben musste. Sie erhielt einen Platz in einem Oldenburger Pflegeheim. Dort besuchte ich sie am 20.09.2023 (Bild).
Als sich der Gesundheitszustand von Ingrid S. weiter verschlechterte, wurde sie in das Klinikum der Stadt Oldenburg eingeliefert und schon bald auf die Palliativstation verlegt. Am 24.05.2024 sahen wir uns wieder. Es sollte unsere letzte Begegnung sein. In der darauf folgenden Woche starb Ingrid S. im Alter von 79 Jahren. Ihre Kinder erfĂŒllten den Wunsch der Mutter und lieĂen Ingrid S. anonym bestatten.
Boxer Hans Weber
Im âHOLSTEN-ECKâ verkehrte kurzzeitig auch Hans Weber („Hansi“ Weber). Wir lernten uns kennen, als er 1973 ebenfalls bei „RHENUS-MIDGARD“ im Hafenumschlag tĂ€tig war. Hans Weber war drei Jahre Ă€lter als ich und erfolgreicher Amateur-Boxer (Halbweltergewicht, dann Weltergewicht). In den Jahren 1972, 1975 und 1976 war er Bezirksmeister. Diese sportliche Leistung hatte ihm anfangs kaum jemand zugetraut, denn Hans Weber war seit seinem zehnten Lebensjahr körperlich behindert. Das war die Folge eines Unfalls, den er als Kind 1963 auf der Oldenburger AmalienbrĂŒcke erlitten hatte. Es handelte sich um eine – inzwischen abgebaute – HubbrĂŒcke, die den KĂŒstenkanal ĂŒberquerte. Der neunjĂ€hrige Hansi Weber hielt sich unerlaubt auf der HubbrĂŒcke auf, als sie fĂŒr den Schiffsverkehr hochgefahren wurde. Das musste er teuer bezahlen: Sein rechter Arm wurde zerquetscht.
Die Ărzte konnten Hans Webers rechten Arm zwar retten, doch von dem Oberarm blieb nur eine dĂŒnne Stange ohne Muskelfleisch ĂŒbrig. Wer nicht wusste, dass Hans Weber – wie alle guten Boxer – seine Schlagkraft vor allem aus der HĂŒfte bezog, konnte aus dem Zustand des rechten Oberarms leicht die falschen SchlĂŒsse ziehen. So wie der Muskelprotz, der in einer Oldenburger Badeanstalt einmal auf Hans Weber traf. Er beschimpfte Hans Weber als „KrĂŒppel“, der an diesem Ort nichts zu suchen habe. Daraufhin bekam der Muskelprotz die „Rechte“ des angeblichen „KrĂŒppels“ zu spĂŒren. Hans Weber war Linksausleger, doch seine „Rechte“ konnte ebenfalls zur Waffe werden. Auch ohne Muskeln im Oberarm.
Trainer Lothar Wagner
Eines Tages – im Sommer 1973 – nahm mich Hans Weber zum Box-Training im Oldenburger Polizei-Sport-Verein (PSV) mit. Ich war ĂŒberrascht, dass von den MĂ€nnern, die dort trainierten, niemand Polizist war. Unser Trainer war der 30-jĂ€hrige Lothar Wagner. Er stand als Amateur-Boxer selbst noch im Ring (Weltergewicht, dann Halbmittelgewicht) und wurde Bezirksmeister in den Jahren 1975 und 1976. Lothar Wagner starb im MĂ€rz 2025.
Lothar Wagners Bruder Peter boxte ebenfalls (Schwergewicht und Superschwergewicht), war allerdings erfolgreicher als Lothar. Peter Wagner war im Boxring kein âSchlĂ€gerâ, sondern ein âTechnikerâ. Er wurde 1965 Bezirks- und Verbandsmeister, 1966 Bezirks-, Verbands- und Niedersachsenmeister und Dritter Deutscher Meister, 1976 Bezirksmeister sowie 1977 Bezirks- und Niedersachsenmeister. Das ist lange her. Heute setzt Peter Wagner weniger die FĂ€uste, sondern mehr seine Stimme ein. Er ist Mitglied des Oldenburger Seemanns-Chores und erfreut mit seinen Gesangskameraden (inzwischen gehören dem Seemanns-Chor auch einige Frauen an) viele Menschen weit ĂŒber Oldenburg hinaus.
Peter Wagner ist eine starke Persönlichkeit mit klarem Werte-Kompass. Ein Mann mit ausgeprĂ€gtem Verantwortungsbewusstsein, der als Trainer niemals zulieĂ, dass junge Boxer „verheizt“ wurden. Peter Wagner ist geradlinig und von einem Sportsgeist erfĂŒllt, der ihm zur Ehre gereicht. Seine Haltung sollte nicht nur den jĂŒngeren Boxern ein Vorbild sein. Die Entwicklung des deutschen Amateur-Boxsports betrachtet Peter Wagner mit Sorge (Bild: Peter Wagner mit mir im FrĂŒhjahr 2025).

ZurĂŒck in das Jahr 1973: Ich war stolz, als Lothar Wagner mir bereits nach wenigen Wochen ein âboxerisches Talentâ bescheinigte. Anscheinend hatte ich mich gegenĂŒber den Sparrings-Partnern im Ring gut geschlagen. Schon vier Monate spĂ€ter meldete Lothar Wagner mich als Teilnehmer fĂŒr eine öffentliche Box-Veranstaltung an. Sie sollte in der Stadt Lengerich, 130 km entfernt von Oldenburg, stattfinden. Der dortige Boxverein hatte die Box-Staffel des Oldenburger PSV zu einem Schaukampf eingeladen. Ich sollte gegen einen Gegner antreten, der ebenso wie ich ein Box-AnfĂ€nger war.
Meine Niederlage im Boxring
Nach Lengerich fuhren wir mit einem VW-Bus. Hans Weber war mit dabei. Die Veranstaltung fand im Festsaal einer Gastwirtschaft statt, in dessen Mitte der Boxring aufgebaut war. Bei der Ankunft erfuhren wir, dass mein vorgesehener Gegner kurzfristig erkrankt war. Damit die Zuschauer die angekĂŒndigte Anzahl von KĂ€mpfen, fĂŒr die sie gezahlt hatten, auch zu sehen bekamen, sollte ich auf Wunsch der Gastgeber gegen einen Mann antreten, der ĂŒber eine mehrjĂ€hrige Box-Erfahrung verfĂŒgte. Er hatte die meisten KĂ€mpfe erfolgreich bestritten, war Ă€lter als ich und von gröĂerer Statur. Mein Trainer, Lothar Wagner, hatte zwar Bedenken, doch ich stimmte zu.
Dicke Schwaden von Tabakrauch hingen in der Luft des Saales, in dem der Boxring stand. Mein Gegner hatte mit mir leichtes Spiel: Ich wurde von ihm regelrecht verprĂŒgelt. Als ich bewusstlos am Boden lag und vom Ringrichter angezĂ€hlt wurde, warf Lothar Wagner das Handtuch. So kam es ânurâ zu einem technischen K.O. Taumelnd verlieĂ ich den Boxring. Die letzten Sekunden haben sich tief in mein GedĂ€chtnis eingebrannt: Erst wurde mir schwarz vor Augen, so dass ich nur noch den LĂ€rm der Zuschauer wahrnahm. Dann setzte mein Gehör aus, und ich verlor das Bewusstsein.
Die Bilanz des Kampfes lieĂ sich sehen, denn mein Gegner hatte gut getroffen: Ich war âausgeknocktâ worden, meine Nase hatte sich auf die Seite gelegt, und ein oberer Schneidezahn war abgebrochen. Mit einem Zahnschutz wĂ€re mir das sicherlich erspart geblieben, doch das war in meiner Alters- und Gewichtsklasse damals nicht ĂŒblich gewesen. Als ich einige Tage spĂ€ter den Zahnarzt aufsuchte, erfuhr ich, dass alle vier SchneidezĂ€hne geschĂ€digt waren. Sie wurden gezogen und durch ein Plastikteil ersetzt, das ich mit der Zunge herunterklappen konnte. Wenn ich anschlieĂend lĂ€chelte, kamen nur noch die EckzĂ€hne zum Vorschein. Das sah nicht sehr freundlich aus.
Die schiefe Nase hatte ich nach dem Kampf vor dem Spiegel gerade gebogen, doch der Luftkanal blieb verstopft, so dass ich lange Zeit kaum durch die Nase atmen konnte. Das besserte sich erst nach einer Operation im Sommer 1976 (Bild). Danach machte ich mit dem Boxen Schluss. Und das Fazit? Der erste öffentlicher Kampf war auch mein letzter, denn âein Boxer muss Spitze sein, sonst kassiert er nur SchlĂ€ge“ (Box-Legende Gustav âBubiâ Scholz). So talentiert, wie mein Trainer geglaubt hatte, war ich nicht gewesen.
Helga T.* und ihr ZuhÀlter
Einige Monate nach dem Boxkampf, den ich in Lengerich verloren hatte, erlitt ich eine Niederlage, die mich ideell viel stĂ€rker schmerzte. Im Juni 1974 hatte ich die fĂŒnf Jahre Ă€ltere Helga T. (Pseudonym) kennengelernt. Sie war 22 Jahre alt und bis vor kurzem in Hamburg auf den Strich gegangen. Von dort war sie geflohen, weil ihr zehn Jahre Ă€lterer âLudeâ sie nicht gut behandelt hatte. In Oldenburg fĂŒhlte Helga sich sicher. Sie arbeitete nun im âHOLSTEN-ECKâ. Franz Scharmann, der Gastwirt, hatte ihr in der Wohnung ĂŒber dem Lokal ein Bett zur VerfĂŒgung gestellt.
Anfang Juli 1974 bezog Helga eine Wohnung in der NĂ€he des Pius-Hospitals. Als wir im August 1974 eines Nachts den nahe gelegenen Schnell-Imbiss am Heiligengeistwall (âWurst-Maxeâ) aufsuchten, erwartete uns eine Ăberraschung. Der Hamburger ZuhĂ€lter tauchte in Begleitung eines anderen Mannes vor uns auf. Helga erschrak, als die beiden MĂ€nner vor uns standen. Der ZuhĂ€lter griff nach ihr, doch Helga riss sich los. Sie flĂŒchtete, und ich stellte mich den MĂ€nnern in den Weg.
An das Dach des Imbiss-Standes schloss sich eine Kunststoffwand als Wetterschutz an (Bild ohne Wand). Drinnen war es so eng, dass den MĂ€nnern der Weg verstellt war, als ich vor ihnen stand. Doch das hinderte sie nicht, Helga zu verfolgen. Mit nur einem Schlag rĂ€umte mich der ZuhĂ€lter beiseite. Dann stĂŒrmten die MĂ€nner hinaus.
Das ging alles so schnell, dass Helga nur ĂŒber einen geringen Vorsprung verfĂŒgte. Die MĂ€nner waren ihr also dicht auf den Fersen. Das glaubte ich jedenfalls und wollte ihnen deshalb schnell folgen. Doch als ich wieder auf den Beinen war und den Schnell-Imbiss verlieĂ, waren die MĂ€nner wie vom Erdboden verschluckt. Ob es ihnen bei der Verfolgung von Helga ebenso ergangen war? Helga war tatsĂ€chlich entkommen. Sie hatte sich in der nahe gelegenen GrĂŒnanlage versteckt, bevor sie den Mut fand, die Wohnung aufzusuchen. Zum GlĂŒck war dem ZuhĂ€lter die Adresse nicht bekannt gewesen.
Die nĂ€chtliche Begegnung mit dem ZuhĂ€lter wurde fĂŒr Helga zu einer ZĂ€sur. Sie gab ihre TĂ€tigkeit im âHOLSTEN-ECKâ auf und unterzog sich einem medizinischen Eingriff. Als ich sie im Krankenhaus besuchte, saĂ ein Ă€lterer, gut gekleideter Verehrer an ihrem Krankenbett. Kurz danach zog Helga aus Oldenburg fort. Sie wollte die Gespenster der Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen. Es ist ihr gelungen.
Im Jahr 2010 kam der Film âThe Touristâ in die Kinos. Die weibliche Hauptrolle spielte Angelina Jolie. Als ich den Film sah, stand plötzlich Helga T. vor meinem geistigen Auge. Ich war verblĂŒfft, wie sehr die Schauspielerin Angelina Jolie der jungen Helga T., die ich im Jahr 1974 in Oldenburg kennengelernt hatte, Ă€hnelte.
Prostitution am Stadthafen
Wer bei weiblicher Prostitution nur an ZuhĂ€lter, Zwang und Gewalt denkt, berĂŒcksichtigt nicht, dass es auch Frauen gibt, die allem Anschein nach ihr Gewerbe selbstbestimmt ausĂŒben und sich nicht dazu genötigt sehen. Wenn sich eine solche Frau irgendwann aus freien StĂŒcken entschlieĂt, einen Mann an ihrem Leben und ihren EinkĂŒnften teilhaben zu lassen, hat das wenig oder nichts mit der ĂŒblichen Vorstellung von ZuhĂ€lterei zu tun. Das Ă€ndert nichts daran, dass es gute GrĂŒnde gibt, jede Form der Prostitution und jede damit verbundene Vorteilnahme abzulehnen.

Selbstbestimmt wirkten auch die Prostituierten, deren MĂ€nner im âHOLSTEN-ECKâ verkehrten.
Diese Frauen gingen an der StraĂe bzw. im Lokal „GOLDENER ANKER“ ihrem Gewerbe nach, wĂ€hrend sich ihre MĂ€nner die Zeit auf andere Weise vertrieben. An JĂŒrgen L., Gert O., Claus T. und deren Frauen erinnere ich mich gut. Die MĂ€nner gingen respektvoll mit den Frauen um. Manchmal schien es, als hĂ€tten nicht die MĂ€nner, sondern die Frauen die Hosen an.
Gert O. ist mir wegen seines höflichen Verhaltens besonders im GedĂ€chtnis geblieben. Er wurde 1938 geboren und wuchs lange Zeit vaterlos auf. Sein Vater war im Krieg Soldat gewesen und galt danach als vermisst. Niemand wusste, dass sich Gerts Vater in Kriegsgefangenschaft befand. Als Gerts Mutter nach vielen Jahren des Wartens die Heimkehr ihres Ehemannes fĂŒr ausgeschlossen hielt, lieĂ sie ihn fĂŒr tot erklĂ€ren. Sie heiratete erneut und brachte ihren zweiten Sohn, Gerts (Halb-) Bruder Claus, zur Welt. Kurz danach stand ihr erster Ehemann, Gerts Vater, vor der TĂŒr. Der fĂŒr tot erklĂ€rte Mann war nach vielen Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft in die Heimat zurĂŒckgekehrt.
Das Schicksal seines Vaters veranlasste Gert O. im Jahr 1956, den Dienst in der neu gegrĂŒndeten Bundeswehr zu verweigern und in die DDR zu fliehen. Am 11.11.1956 berichtete die in Ost-Berlin ansĂ€ssige Zeitung âNEUES DEUTSCHLANDâ (ND), das Zentralorgan der damaligen SED, dass âder Jugendliche Gert O.â BĂŒrger der DDR werden wolle, um sich der westdeutschen Wehrpflicht zu entziehen. Gert O. ahnte damals nicht, dass es sechs Jahre spĂ€ter auch in der DDR die Wehrpflicht geben sollte. Den Entschluss, in die DDR auszuwandern, bereute er schon bald. Gert O. verlieĂ die DDR nach kurzer Zeit und kehrte zu seiner Familie im Ruhrgebiet zurĂŒck.
Gert O. hatte den Beruf des Kellners gelernt. Seine Ehefrau hieĂ Ilse. Ilse war eine patente Person, mit der man âPferde stehlenâ konnte. Sie hatte Haare auf den ZĂ€hnen. Ilse verfĂŒgte ebenso wie die Frau, mit der Gerts Halbbruder Claus zusammenlebte, ĂŒber ein Zimmer im âGOLDENEN ANKERâ. Anfang 1977 gab Ilse O. ihr Gewerbe auf, um zusammen mit Gert O. in Wilhelmshaven ein Lokal zu betreiben. Ilse O. starb im Jahr 2018. Sie wurde 74 Jahre alt. Wenige Tage spĂ€ter stĂŒrzte ihr Ehemann Gert eine Treppe herunter. Er ist seitdem ein Pflegefall und kaum noch ansprechbar.
Bordell „GOLDENER ANKER“
Der âGOLDENE ANKERâ war ursprĂŒnglich eine einfache Hafenkneipe gewesen, aber durch die Zimmer-Vermietung an Frauen, die gewerblich tĂ€tig waren, zum Bordell geworden. Die âFreierâ wurden von den Frauen am Stau akquiriert und im „GOLDENEN ANKER“ âstationĂ€râ behandelt. Ende der 1970er Jahre wechselte der Besitzer.
Das Haus verfĂŒgte aufgrund eines Anbaues ĂŒber insgesamt zwölf Zimmer. Die Frauen, die keine Zimmer im âGOLDENEN ANKERâ gemietet hatten, warteten am Stau, an der KlĂ€vemannstraĂe und der GĂŒterstraĂe auf zahlungswillige Autofahrer. Sie ĂŒbten ihre TĂ€tigkeit auf dem unbewachten HafengelĂ€nde aus.
Eine eigene Liga bildeten die rund 20 Frauen des âEROS-CENTERSâ, das sich an der GĂŒterstraĂe, Ecke AnkerstraĂe befand. Zwischen ihnen und den Frauen vom StraĂenstrich kam es hin und wieder zu einem âDirnen-Kriegâ.
Wiedersehen nach 20 Jahren
JĂŒrgen L. war einer der MĂ€nner, deren Frauen âanschafftenâ und im âGOLDENEN ANKERâ ein Zimmer gemietet hatten. Ich traf ihn 20 Jahre spĂ€ter in Berlin wieder, als ich mit dem Fahrrad die Otto-Suhr-Allee entlang fuhr. Wir staunten beide, als wir uns plötzlich gegenĂŒber standen. JĂŒrgen L. hatte sich nach dem Tod seiner Frau aus dem âMilieuâ verabschiedet, neu geheiratet und in Berlin eine Anstellung als Monteur gefunden. Er starb im Jahr 2004. Das Bild stammt aus demselben Jahr. JĂŒrgen L. wurde nur 66 Jahre alt.
P. und der Umzug nach Berlin
Als ich irgendwann Ende 1976 im âHOLSTEN-ECKâ auf meinem Akkordeon âLa Palomaâ spielte, lĂ€chelte mich eine junge Frau an. Sie hieĂ P. und arbeitete dort seit einer Woche. Wir wurden ein Paar. Eines Abends fing eine andere Frau, die mir einmal Geld zugesteckt und nun zu viel getrunken hatte, mit P. einen Streit an, der in einer PrĂŒgelei endete. Die Frau schlug wĂŒtend auf P. ein, zog aber den kĂŒrzeren: Sie hatte P. unterschĂ€tzt.
Ein halbes Jahr spĂ€ter, im Sommer 1977, endete meine Berufsausbildung. Ich wollte Oldenburg verlassen und schloss mit der „BETEFA Berliner Telefonschnur-Fabrik GmbH“ einen Arbeitsvertrag. Gemeinsam mit P. zog ich nach West-Berlin. Wir waren jetzt beide 20 Jahre alt. Anfang 1978 heirateten wir. Die Feier fand in der Wohnung von Greta und Henning Eichberg statt. Vielleicht waren wir noch zu jung fĂŒr die Ehe. Nach nicht einmal zwei Jahren trennten wir uns.
RĂŒckblick und Fazit
Seitdem ich aus Oldenburg weggezogen bin, hat sich das Bild des alten Stadthafens stark verĂ€ndert. Die frĂŒheren Lager- und Umschlagbetriebe mit ihren Speichern gibt es nicht mehr. Sie wurden vor langer Zeit abgerissen und durch langweilige BĂŒro-GebĂ€ude ersetzt. Nur das GebĂ€ude, in dem einst der Hafenmeister residierte, blieb erhalten. In den RĂ€umen befindet sich jetzt ein Restaurant.

Seitdem der Hafen-Umschlag an den östlichen Stadtrand verlegt wurde, wird der alte Stadthafen fĂŒr andere Zwecke genutzt. Wo frĂŒher die Ladung der Frachtschiffe âgelöschtâ wurde, liegen heute nur noch die Yachten der Oldenburger Freizeit-KapitĂ€ne.
An die Menschen, denen ich in den Jahren 1973 bis 1977 im Oldenburger Stadthafen und dessen Umfeld begegnet bin, denke ich oft mit Wehmut zurĂŒck. Das gilt vor allem fĂŒr meinen frĂŒheren Vorarbeiter bei RHENUS-MIDGARD, Heinz Schönnagel.

























