Mit einem Rülpser machten die zwei Skinheads auf sich aufmerksam. Sie waren soeben in die S-Bahn eingestiegen, in der ich saß. Einer trug einen Aufnäher auf seinem Ärmel: ‚Ich bin stolz, Deutscher zu sein.‘ Zunächst wollte ich – genauso wie bei anderen unangenehm wirkenden Fahrgästen – einfach wegsehen. Das war leicht getan. Weghören war jedoch nicht möglich. So verfolgte ich widerwillig den Auftritt der beiden. Dabei fragte ich mich nach den Gründen für ihr provozierendes Verhalten. Ich fühlte mich herausgefordert. Einerseits sagte ich mir, daß ich etwas tun müsse. Andererseits sagte mir eine innere Stimme: ‚Still sein und sitzenbleiben!‘
Nach einigem Zögern stand ich auf und ging zu den beiden Jugendlichen hin. ‚Warum benimmst du dich so?‘ fragte ich denjenigen, der sich als letzter lautstark geäußert hatte. ‚Ich finde es gut, daß ihr euch zu eurem Land bekennt‘, fügte ich hinzu. ‚Aber merkt ihr denn nicht, daß ihr mit eurem Verhalten den deutschen Namen in den Schmutz zieht?‘ Die beiden schauten mich verblüfft an. Ihre Körperhaltung verriet Angriffsbereitschaft. Einen Moment schienen sie zu überlegen, ob ich mich über sie lustig machen wollte. Doch diesen Eindruck erweckte ich offensichtlich nicht. Sie spürten, daß ich sie ernst nahm. Ihre Körperhaltung entspannte sich. Wir kamen ins Gespräch. Manches von dem, was mir die beiden erzählten, erinnerte mich an meine eigene Jugendzeit. Ein paar Stationen später mußten wir das Gespräch abbrechen. Die beiden Jugendlichen stiegen aus.
War mein Verhalten richtig gewesen? Immerhin hatten die Jugendlichen doch nachdenklich reagiert. Muß ich mir trotzdem den Vorwurf gefallen lassen, das Falsche getan zu haben? Hätte ich die beiden belehren müssen, daß man als Deutscher auf sein Land nicht stolz sein darf? Die beiden Jugendlichen waren aus dem ‚Westen‘ gewesen. In der Schule hatten sie einiges über die Verbrechen des Nationalsozialismus erfahren. Dabei schien der Nationalsozialismus am Ende deckungsgleich mit dem Nationalstaat zu sein. Im Bewußtsein dieser Schüler führte die Distanzierung vom Nationalsozialismus automatisch zu einer Distanzierung vom deutschen Nationalstaat.
Die Distanz zur eigenen Nation gehört im Westen und zunehmend auch im Osten zum pädagogischen Marschgepäck einer ganzen Lehrergeneration. Jener Lehrergeneration, die heute zu großen Teilen das Erziehungssystem der DDR als ‚faschistoid‘ verunglimpft. Das Deutschlandbild, das diese Lehrer ihren Schülern vermitteln, wird beherrscht durch die Täter. Der Widerstand im ‚Dritten Reich‘ bleibt dagegen merkwürdig abstrakt. Den Schülern bietet er kaum Möglichkeiten zur Identifikation. Mit dem Wissen um die Verbrechen, die von Deutschen im deutschen Namen begangen worden waren, läßt man diese Schüler allein.
In dem Bild, das sich viele Schüler von Deutschland machen, dominieren Begriffe von Macht, Gewalt und Härte. Gedanken der Fürsorge, der Solidarität und der Hilfsbereitschaft haben darin nur wenig Platz. Und sozialistische Patrioten sind in einer BRD, die sich als Teil der ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ definiert, sowieso nicht gefragt. Dieses Deutschlandbild nimmt auf erschreckende Weise von den Schülern Besitz. Sie identifizieren sich mit dem Bösen, weil ihnen die Identifikation mit dem Guten verwehrt ist. Dagegen wurde in der DDR der Widerstand gegen das NS-Regime als Teil der demokratischen Tradition eines ‚anderen Deutschland‘ behandelt. Das erleichterte den Jugendlichen in der DDR die Identifikation mit dem Staat, in dem sie lebten …
… Wie sollen Kinder damit umgehen, wenn sie einerseits lernen, dem Schwachen zu helfen und den Fremden zu achten, und ihnen andererseits das Gemeinwesen, dessen jüngste Glieder sie sind, als völlig wertlos oder sogar verabscheuungswürdig dargestellt wird? Zur deutschen Identität gehört auch das Wissen um die Verbrechen des ‚Dritten Reiches‘. ‚Auschwitz‘ ist ein Symbol dafür.
Wie sollen sich junge Deutsche zu dieser Verantwortung bekennen, wenn ihnen das Bekenntnis zur eigenen Nation abhanden gekommen ist?
© Roland Wehl aus: Neues Deutschland, 31.07.1998 (Auszug)