Antje Vollmer benennt in ihrem 2010 erschienenen Buch: âDoppelleben – Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentropâ die Vorurteile, auf die man im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 hĂ€ufig stöĂt. Danach seien diejenigen, die das Attentat auf Hitler vorbereitet bzw. durchgefĂŒhrt hatten, Antidemokraten oder sogar Antisemiten gewesen. Sie hĂ€tten sich zum Attentat nur deshalb entschlossen, weil der Krieg verloren war.
Antje Vollmer rĂ€umt mit diesen Legenden auf. Sie verdeutlicht – am Beispiel von Heinrich und Gottliebe von Lehndorff – die starken moralischen TriebkrĂ€fte des Widerstands. Das Buch erschien im Jahr 2010.
Eine Veranstaltung mit 30 Jugendlichen
Um den 20. Juli 1944 und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus ging es auch bei einer Veranstaltung mit ca. 30 Jugendlichen, die einige Jahre vorher in unserem Haus stattgefunden hatte.  Das Einleitungsreferat hielt Prof. Dr. Peter Brandt.
Die Jugendlichen waren erstaunt ĂŒber das, was sieÂ
ĂŒber Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Henning von Tresckow, Adam von Trott zu Solz, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Julius Leber und viele andere Menschen des Widerstands erfuhren. Ihnen war nicht bekannt gewesen, wie erschĂŒttert Stauffenberg war, als er von dem Massenmord hinter der Front erfuhr. Und dass er sich gerade deshalb zum Handeln entschloss:
âEs ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, daĂ er wohl als VerrĂ€ter in die deutsche Geschichte eingehen wird. UnterlĂ€sst er jedoch die Tat, dann wĂ€re er ein VerrĂ€ter vor seinem eigenen Gewissen.â
Mit dem neu erworbenen Wissen fuhren die Jugendlichen nach Hause. Der Widerstand gegen das NS-Regime war fĂŒr viele von ihnen konkreter – und vielfĂ€ltiger – geworden. Ăber die patriotischen Motive vieler WiderstandskĂ€mpfer – einschlieĂlich der Mitglieder der Roten Kapelle – hatten sie vorher noch nie nachgedacht.
GesprÀch mit einem Lehrer
Am darauffolgenden Tag traf ich den stellvertretenden Schulleiter einer Gesamtschule. Er unterrichtet auch im Fach Geschichte. Voller Begeisterung erzĂ€hlte ich ihm von der GesprĂ€chsrunde und der Reaktion der Jugendlichen. Doch mein GesprĂ€chspartner reagierte anders als erwartet. Seiner Meinung nach waren die MĂ€nner des 20. Juli nicht besser als die Nazis selbst gewesen. Sie seien âOpportunistenâ gewesen und hĂ€tten sich zum Staatsstreich nur entschlossen, um die eigene Haut zu retten.
Wer so redet, will anscheinend nicht verstehen, sondern aus dem trĂŒben Teich der Arroganz schöpfen. Der Redakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, Rainer Blasius, hat ĂŒber solche Zeitgenossen in einem Ă€hnlichen Zusammenhang folgendes geĂ€uĂert:
âOpportunisten von heute schreiben ĂŒber Opportunisten von gestern und sind fest davon ĂŒberzeugt, dass sie keine Opportunisten gewesen wĂ€ren, wenn sie gestern gelebt hĂ€tten.â
Historisierung der NS-Zeit?
Je lĂ€nger die Zeit des Nationalsozialismus zurĂŒckliegt, umso undifferenzierter wird ĂŒber die damals lebenden Menschen geurteilt. DafĂŒr ist der inflationĂ€r gebrauchte Vorwurf des Opportunismus ein Beleg. Er wird heute sogar gegenĂŒber denjenigen erhoben, die das Gegenteil von Opportunisten waren: den MĂ€nnern des 20. Juli 1944. Bei aller politischen Kritik an Einzelnen von ihnen darf die moralisch-ethische Dimension ihres Handelns nicht vergessen werden: sie wollten das Morden beenden. DafĂŒr riskierten sie das Höchste, was ihnen zur VerfĂŒgung stand: das eigene Leben – und das Leben ihrer Familien.
Eine solche Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft erscheint uns heute unvorstellbar. Ist das vielleicht eine ErklĂ€rung fĂŒr die Selbstgerechtigkeit heutiger Kritiker?