Wer kennt heute noch den Arbeiterführer August Winnig? Der Sozialdemokrat, Gewerkschafter und Christ lebte von 1878 bis 1956. Nach 1945 wurde er als Christ geehrt, der während der nationalsozialistischen Herrschaft mutig gegen den Strom geschwommen sei.
So schrieb die Zeitung Christ und Welt über Winnig: ‚Hier blickt uns ein sehr kluges, klares, unbestechliches Auge an und begegnet uns ein Mann, in dessen Nähe es uns wohl und warm ums Herz wird. Die Mitte seiner Weisheit ist der Glaube an das Evangelium.‘
Das Katholische Wochenblatt aus Freiburg berichtete: ‚In dieser schrecklichen Zeit ist Winnig mehr als einmal die Stimme des Gewissens geworden, geleitet von einem Rechtsempfinden, einer Verpflichtung an das Edelste im Volke, die vorbildlich bleiben.‘
Und das Lutherische Gemeindeblatt Hamburg urteilte: ‚Und gegen den Strom hat Winnig gestanden, für die christliche Gemeinde, Mahner und Tröster in den zwölf Jahren der Bedrückung ? Das wird ihm die Christenheit nicht vergessen.‘
Auch August Winnig selbst muß sich so gesehen haben. In seiner 1951 erschienenen Biographie ‚Aus zwanzig Jahren‘ beschreibt er, was ihn von der Gruppe der Nazis unterschied: der Stil. So weiß er 1951, was er 1925 angesichts Hitlers ‚Mein Kampf‘ empfand: ‚Ein solches Buch konnte ich nicht besprechen, ich konnte es nicht einmal lesen.‘
Einige Jahre vorher hatte August Winnig noch eine andere Lesart parat. In seinem 1935 erschienenen Buch ‚Heimkehr‘ schrieb er über den Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923: ‚Ich war betrübt, daß ich nicht dabei war. Ich hatte doch fünf Jahre auf diese Stunde hin gekämpft und gelitten.‘ Stolz preist er an verschiedenen Textstellen seinen Antisemitismus. Über ein Rededuell mit einem Vertreter des Soldatenrates heißt es: ‚Ich sprach nur meinetwegen, um mir nicht vorwerfen zu müssen, vor diesem Juden die Segel gestrichen zu haben.‘ Und über ein Gespräch mit sozialdemokratischen Freunden berichtet er: ‚Dies erzählte ich und fügte hinzu, der antisemitische Charakter schrecke mich nicht, der Anteil der Juden am Zusammenbruch könne zwischen uns nicht strittig sein und fordere, daß man ihren Einfluß auf die Politik unterbinde‘.
Winnig war kein Nazi, aber er stand den Nazis zeitweise nahe. Nach 1945 verlieh er sich mit der geschönten Biographie Vorbildfunktion für die nachwachsende Generation und bediente damit den Mythos der einfachen Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
August Winnig, Carl Schmitt und manch anderer Held der ‚Konservativen Revolution‘ haben vor und nach 1945 moralisch versagt. Ihre befleckten Westen wollten sie säubern, um zu behaupten, es habe gar keine Flecken gegeben. Was sind das aber für ‚Patrioten‘, die anderen Schuld zuweisen und sich selbst ausnehmen. Welches Format besaß dagegen der oft verkannte Willy Brandt.
Als Emigrant, der sich leicht der historischen Verantwortung hätte entziehen können, bekannte er sich mit seinem Kniefall in Warschau ausdrücklich mitschuldig. Diese patriotische Haltung wurde ihm von den damaligen Konservativen jedoch nicht gedankt.
© Roland Wehl aus: Junge Freiheit, 25.08.1995