Neulich kamen meine beiden zehnjährigen Töchter aufgeregt von der Schule nach Hause. Im Handarbeitsunterricht waren sie von ihrer Lehrerin gefragt worden, was sie stricken möchten. Eine der beiden hatte geantwortet: ‚Eine Mütze für unseren Vater‘. Als die Lehrerin fragte, welche Farbe die Mütze haben solle, lautete die Antwort: ‚Schwarz-Rot-Gelb‘. Die Lehrerin war fassungslos. ‚So etwas tragen doch nur die Nazis‘, sagte sie. Ein Einzelfall? Leider nicht. Statt dessen Alltag in deutschen Schulen.
Zweites Beispiel: Eine Schule im Berliner Wedding mit einem hohen Anteil ausländischer Schüler aus der Türkei und den arabischen Staaten. Im Unterricht einer siebten Klasse wurde über die europäische Einigung gesprochen. Die Klassengemeinschaft beschloß, das Klassenzimmer dem Thema entsprechend zu schmücken. In einer Ecke des Raumes wurde eine Deutschlandfahne aufgehängt, in der anderen Ecke die Europa-Fahne. Einen Tag später kam es zum Eklat. Ein Fachlehrer weigerte sich wegen der Deutschlandfahne, den Klassenraum zu betreten. Die Fahne wurde entfernt.
Die Reaktionen der beiden Lehrer hatten für die Schüler dieselbe Botschaft. Durch das Verhalten dieser Lehrer wurde den Schülern die natürliche und unbefangene Haltung zu dem Land, in dem sie aufwachsen, vermiest. Wie soll daraus Gutes entstehen?
Drittes Beispiel: Für die ‚Internationale Liga für Menschenrechte‘ hatte ich vor vielen Jahren eine Broschüre zur Verleihung der Carl-von Ossietzky-Medaille erstellt. Die Verleihung fand in einer Gesamtschule im West-Berliner Bezirk Kreuzberg statt. Eine Betonburg, in der das Leben erstickt. Die Eintönigkeit der grauen Wände wurde durch aneinandergereihte mannshohe Fotografien unterbrochen. Ich war erschrocken. Die Bilder zeigten Überlebende aus deutschen KZs. Täglich mußten die Schüler an den Bildern dieser gepeinigten Menschen vorbeigehen. Die Bilder sollten bei den Schülern Betroffenheit auslösen. Daß die Schüler dadurch eher abgestumpft wurden, konnten sich die verantwortlichen Pädagogen gar nicht vorstellen. Entsprechend groß war der Aufschrei, als ausgerechnet an dieser Schule Hakenkreuzschmierereien bekannt wurden.
Die für die Schmierereien verantwortlichen Schüler hatten den Repressivapparat ‚Schule‘ treffen wollen. Instinktsicher taten sie das auf eine Weise, die den größten Erfolg versprach. Sie beschädigten genau das, was der Schule besonders wichtig war: das Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
Die Jugendlichen, die scheinbar positiv auf den Nationalsozialismus reagieren, sind in Ost und West nur eine kleine Minderheit. Trotzdem müssen diese Jugendlichen ernst genommen werden. Sie sind keine homogene Gruppe. Einige unter ihnen wollen ’nur‘ provozieren. Andere glauben sich im Besitz einer vermeintlich ‚anderen Wahrheit‘.
Eine andere Qualität des Aufbegehrens und der Regelverletzung gibt es im Osten. Auffallend ist dabei der familiäre Hintergrund: Viele ‚rechte‘ Jugendlichen kommen aus Elternhäusern mit SED-Vergangenheit. Der Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von den Kindern der ‚zweimal gedemütigten Elterngeneration‘.
Kinder, die früher mit großem Respekt ihren Eltern gegenüberstanden, erleben, daß das, was für die Eltern wichtig war, wertlos geworden ist. Söhne, die stolz gewesen waren, weil ihre Väter bei der NVA oder beim MfS tätig waren, erlebten den Sturz ihrer Väter in die Achtungslosigkeit. Menschen, die ein halbes Leben lang ihre Pflicht getan hatten, wurden über Nacht aus ihren Positionen verjagt. Für viele bedeutete das Frührente oder Arbeitslosigkeit. Für andere bedeutete das den Eintausch der Militärmütze gegen den Vertreterkoffer.
Der Wertemaßstab der Jugendlichen im Osten ist seit dem Mauerfall auf den Kopf gestellt. Was in der DDR ‚links‘ war, gilt im vereinten Deutschland als ‚rechts‘. Das betrifft nicht nur die Haltung zu Armee, Polizei und ‚Recht und Ordnung‘. Es betrifft auch das gemeinschaftliche Denken, das in der DDR so stark entwickelt war. Es betrifft die Fürsorge gegenüber dem Nächsten und die Liebe zum eigenen Land. In den Haßgesängen und den Gewaltexzessen eines Teils der Jugendlichen im Osten drückt sich auch die Wut über diesen Verlust aus. Darin zeigt sich die Sehnsucht nach etwas ganz anderem: nach Liebe und einer heilen Welt, die in der Erinnerung der DDR sehr ähnelt.
Für diese Sehnsucht ist in der großwestdeutschen Bundesrepublik kein Platz. Die BRD entwickelt sich zu einer Arbeitskaserne, in der immer weniger Menschen beschäftigt sind. Selbst Heiner Geißler warnt vor einem Turbo-Kapitalismus, der diese Gesellschaft sozial und kulturell zu Grunde richtet.
Die gewaltbereiten rechtsradikalen Jugendlichen sind Täter und Opfer zugleich. Eines sind sie auf jeden Fall nicht: Menschen, die das eigene Schicksal in die Hand nehmen.
© Roland Wehl aus: Junge Freiheit, 27.03.1998