Schwieriges Vaterland

Bei dem Buch handelt es sich um gesammelte Aufsätze, auch kürzere Zeitungs- und Rundfunkkommentare, sowie Vorträge aus den achtziger und neunziger Jahren. Ihr Inhalt ist die „deutsche Frage“ im weitesten Sinn des Wortes. Der Autor, Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen, hat sich auch fachwissenschaftlich mit Nation und Nationalismus seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt. Die hier vorliegenden Texte beziehen sich aber vorwiegend auf politische (wenn auch meist nicht tagespolitische) Kontroversen um Deutschland.

Bereits in seiner linksradikalen Phase – er war nach eigenem Bekunden Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre Trotzkist – hatte Peter Brandt offenbar ein Gespür für die Bedeutung des doppel-deutschen Status quo, für die Blockteilung Europas unter der Hegemonie der Supermächte entwickelt. Die Hinwendung zur deutschen Frage ging also von gesellschaftspolitisch motivierter Kritik an beiden Systemen auf deutschem Boden aus. So heißt es 1982, nicht die Wiedervereinigung als solche stünde im Vordergrund, sondern es ginge zunächst „um die konkreten Hindernisse und Möglichkeiten, die sich aus der spezifischen Spaltung nach dem Zweiten Weltkrieg für sozialistische (…) Politik ergeben“, um die Wiedergewinnung der gesamtdeutschen Dimension im Denken und Handeln der Linken bzw. der tradierten Arbeiterbewegung.

Aber spätestens seit 1980 wird die Nation als eigener Gegenstand aufgenommen, indem die Identitätsfrage ausführlich reflektiert wird. Als dritter Strang tritt angesichts der Nachrüstungsdebatte sowie des Aufschwungs der Friedensbewegung in der BRD (und in anderer Form in der DDR) nach 1979 die sicherheitspolitische Diskussion mit Blick auf die deutschen Spezifika (eingeschränkte Souveränität usw.) hervor.

Zweifellos gehört Peter Brandt zu den nicht sehr zahlreichen linken Intellektuellen, die in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur einen gesamtdeutschen Vorbehalt und ein gesamtdeutsches Kalkül im Hinterkopf hatten (wie es etwa auch für Egon Bahr gilt), sondern öffentlich und systematisch auf der politischen Relevanz der nationalen Frage Deutschlands bestanden. Deshalb ist er stets bemüht, den Kontakt zu seinem Umfeld – der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften, der linken Intelligenz – nicht zu verlieren. Anders als die SPD Gerhard Schröders versteht sich Peter Brandt weiterhin als „demokratischer Sozialist“ und sieht gerade nach dem (von ihm begrüßten) Ende des Ostblock-Systems und angesichts der „Globalisierung“ die Notwendigkeit wie die Chance einer erneuerten Kapitalismuskritik. Der Band bietet dem Interessierten Gelegenheit, die Position dieses „Patrioten von links“ in ihrer Entwicklung seit 1980 kennenzulernen.

Die Beiträge sind chronologisch geordnet, abgesehen von der Einleitung, in der der Autor auch eine Einordnung aus heutiger Sicht versucht, und einem autobiographischen Text, der zuerst 1993 zusammen mit rund 40 anderen Lebensläufen aus Ost und West veröffentlicht wurde. Der besseren Einordnung dienen auch knappe, erläuternde Vorspanne, die jedem Text vorangestellt sind. Die Aufsätze der frühen achtziger Jahre, beginnend mit dem einleitenden Teil des damals stark beachteten Dokumentenbandes „Die Linke und die nationale Frage“, entstanden überwiegend in Zusammenarbeit mit Herbert Ammon bzw. Günter Minnerup, einem in England lebenden Sozialwissenschaftler. Von „Wege zur Lösung der Deutschen Frage“ (1981) bis zu „Osteuropa und die Deutsche Frage“ (1987) und“Die Sowjetunion, Deutschland und das Europäische Haus“ (im Juli 1989 geschrieben, im Januar 1990 veröffentlicht) wird hinter aller teilweise beeindruckend scharfer, teilweise inzwischen widerlegter oder zumindest überholter Analyse das Bemühen deutlich, immer wieder Ansätze in der Realität zu finden, die eine Veränderung des Status quo möglich oder wahrscheinlich machen.

Die nach dem Herbst 1989 verfassten Texte sind heterogener. Sie beginnen mit einem zur Jahreswende 1989/90 im SPD-Mitgliedermagazin Vorwärts veröffentlichten Essay, der einen im Unterschied zur Nüchternheit mancher Abhandlungen fast dramatisch wirkenden und mit Polemik angereicherten Appell an die Sozialdemokratie enthält, in die Offensive zu gehen: abweichend von Oskar Lafontaine mit seinem mangelnden Gespür für die nationale Frage, aber auch anders als sein Vater Willy Brandt, der den gesamtdeutschen Konsens von Kohl bis Modrow suchte. Der folgende Artikel vom Sommer 1990, „Deutschland und Europa“, zeigt bereits die unumgängliche Umstellung des Verfassers auf die neuen Verhältnisse nach den Volkskammerwahlen in der DDR (mit dem Sieg der „Allianz für Deutschland“) und der Akzeptierung der Nato-Mitgliedschaft der vereinten Bundesrepublik durch die Moskauer Führung.

Den Abschluß des Buches bildet eine rückblickende Darstellung der deutschlandpolitischen Optionen im linken Spektrum zwischen Grundlagenvertrag und Wende sowie die Ansprache Peter Brandts auf der Feier der Stadt Hagen/Westfalen zum Volkstrauertag 1998, die natürlich einen anderen Charakter trägt als die übrigen Beiträge. Peter Brandt versucht in dieser Ansprache, das Nationalbewußtsein nicht nur an eine sozial akzentuierte Demokratie, sondern auch an einen – wenn auch kritisch reflektierten – Antifaschismus zu binden. Dabei ist das darin enthaltene Bekenntnis zum eigenen Volk für viele selbsternannte „Antifaschisten“ bereits ein Sakrileg. Anderen wiederum mag seine Rede einfach nur anachronistisch erscheinen angesichts einer Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit mit dem Volkstrauertag offensichtlich nichts anzufangen weiß.

In dem Artikel „Europa ja – aber welches?“ vom März 1998 (ein Gastkommentar im Neuen Deutschland) propagiert Peter Brandt trotz Kritik am konkreten EU-Einigungsprozeß die Harmonisierung der nationalen und der europäischen Ebene bei der Verteidigung des Sozialstaats und der Demokratie gegen die aktuellen Tendenzen zur völligen „Entgrenzung des Marktkapitalismus“. Auf viele Fragen bleibt Peter Brandt die Antwort schuldig. Will er den Leser selbst die Schlußfolgerung ziehen lassen? Oder traut sich Peter Brandt nicht, die Konsequenzen zu benennen, die sich aus seiner Sicht ergeben?

In einer Diskussionsveranstaltung sprach Peter Brandt einmal selbstironisch davon, er habe politisch immer so etwas wie die Quadratur des Kreises versucht. Es sei ihm dabei wie allen anderen Autoren ergangen, die sich jenseits der üblichen Floskeln der Blockapologie vor 1990 mit realpolitischem Anspruch auf die deutsche Teilungsproblematik eingelassen hätten. Ist das die ganze Wahrheit? Oder ist die „realpolitische Logik“ Peter Brandts nicht auch immer von dem Wunsch geprägt gewesen, dem eigenen politischen Umfeld verständlich zu bleiben? Ist dies vielleicht auch der Grund für die behutsame Rhetorik, die die Beiträge seines Buches auszeichnet?

In den zurückliegenden Wochen haben wir in Deutschland eine peinliche Auseinandersetzung um den „Nationalstolz“ erlebt. Menschen, die bislang eher durch „Nationalabstinenz“ aufgefallen waren, bekannten plötzlich lautstark ihren „Stolz“ auf Deutschland. Natürlich ging es dabei nicht wirklich um das Verhältnis zur eigenen Nation, sondern um tagespolitisches Gezänk und um den Versuch, den politischen Gegner zu beschädigen.

Peter Brandt gehört nicht zu denen, die von sich behaupten, „stolz“ auf Deutschland zu sein. Ein solcher Gedanke ist ihm fremd. Für ihn ist Deutschland ein „schwieriges Vaterland“. Seit vielen Jahren setzt sich Peter Brandt damit auseinander. Spricht daraus die Liebe zum eigenen Land?

Peter Brandt: Schwieriges Vaterland. Texte von 1980 bis heute. Verlag edition ost, Berlin 2001, br., 378 Seiten, 29,80 Mark

© Roland Wehl aus: Junge Freiheit, 29.06.2001