Oldenburger Hafenromantik

Neben Schwarz und Weiß gibt es noch zahlreiche Grautöne im Leben. Diese Erfahrung machte ich auch als Jugendlicher im Oldenburger Hafen. In den Jahren 1973 bis 1977 lernte ich ein Milieu kennen, das mich faszinierte. Die Menschen, denen ich begegnete, hatten das Herz oft auf dem rechten Fleck. Ihnen ist diese Seite gewidmet.

Hans Albers & Große Freiheit

Schon früh träumte ich davon, zur See zu fahren. Das lag auch an den Liedern von Hans Albers („Nimm mich mit, Kapitän“), Lale Andersen („Blaue Nacht am Hafen“) und Freddy Quinn („Junge, komm bald wieder“), die ich bereits als Kind gern gehört hatte – und die mich noch heute anrühren. Filme wie der UFA-Klassiker „Große Freiheit Nr. 7” (mit Hans Albers) verstärkten meine Sehnsucht.

Stadthafen in Oldenburg

Die romantische Vorstellung von der Seefahrt und allem, was damit zusammenhängt, trieb mich in der Stadt, in der ich aufwuchs (Oldenburg i.O.), immer wieder zum Stadthafen mit den damaligen Lagerhäusern. Der Oldenburger Hafen ist sowohl ein Binnen- als auch ein Seehafen, denn Oldenburg ist über den Küstenkanal mit dem Rhein und über die Hunte mit der Nordsee verbunden. Deshalb können im Oldenburger Hafen sowohl Binnenschiffe als auch kleinere Seeschiffe („Kümos“) anlegen. Der Stadthafen wird in Oldenburg als „Stau“ bezeichnet. So heißt auch die Straße, die das ehemalige Gebiet der Lagerhäuser rund um den Hafen umschließt.

Noch heute werden im Oldenburger Hafen vor allem Getreide, Futter- und Düngermittel sowie Baustoffe wie Kies und Sand umgeschlagen. In meiner Jugendzeit wurden diese Güter im Bereich des Stadthafens „gestaut“. Heute staut sich im Stadthafen nur noch das Wasser aus Hunte und Küstenkanal. Die alten Lagerhäuser und die Speichergebäude aus Backstein gibt es nicht mehr. Sie wurden abgerissen und durch langweilige Bürogebäude mit glatten Fassaden ersetzt. Seitdem werden Güter und Waren nur noch im östlichen, neu ausgebauten Teil des Hafens umgeschlagen bzw. gestaut. Dort stehen die Kräne, die einst an der Hafenstraße standen. Die Hafenstraße wurde in „Hafenpromenade“ umbenannt.

Exkurs I: Graf-Anton-Günther-Schule (GAG)

Graf Anton Günther mit Pferd Kranich

Mit dem 16. Geburtstag war ich alt genug, um im Hafen in einem der Umschlagbetriebe arbeiten zu können. Es handelte sich um eine Niederlassung der „MIDGARD Deutsche Seeverkehrs-AG“, die seit Anfang 1973 als „RHENUS-MIDGARD“ firmierte. Deren Lagerhäuser befanden sich an der Hafenstraße und an der Güterstraße. Ich war Schüler der Graf-Anton-Günther-Schule (GAG), die ich drei Monate später – im Sommer 1973 – verließ. Danach lernte ich die Arbeitswelt im Hafen noch besser kennen.

Die Graf-Anton-Günther-Schule (GAG) befindet sich in der Schleusenstraße in Oldenburg, nur wenige Meter vom Küstenkanal entfernt. Am 27. Dezember jeden Jahres findet in den Räumen der Graf-Anton-Günther-Schule das Ehemaligen-Treffen statt, auf dem sich die ehemaligen Lehrer und Schüler wiederbegegnen können.

Exkurs II: Ehemalige GAG-Lehrer

Die ehemaligen Lehrer der Schule sehe ich deutlich vor mir: Helene Müller (Mathematik), den zeitweiligen Klassenlehrer Wolfgang Schieke (Deutsch, Erdkunde), den Gründer des Oldenburger Jugendchores, Heinz Kanngießer (Musik), die Lehrer Ulrich Willenbücher (ebenfalls Deutsch), Karl Vogt (Kunst), Karl Scheller (Sport), den unter erhöhtem Blutdruck leidenden Bodo Semmler (Latein), Dr. Werner Storkebaum, der im Krieg aus einem Gefangenenlager geflohen war (Erdkunde), sowie die Lehrer Voigt oder Voget (Geschichte, Sport), Wieting (Physik), Heise, Ohlsen oder Olsen, Sternagel, Lothar Schwatlo, die Lehrerinnen Ilsemarie Primke (Biologie), Baltrusch und Hippert sowie die ehemaligen Schulleiter Hans Dumkow und Günther Solling. Die Namen anderer ehemaliger Lehrer sind mir entfallen.

Leider kann ich mich auch nicht mehr an den Namen des Studienassessors erinnern, der im Jahr 1969 das Fach Gemeinschaftskunde unterrichtete. Hieß er Steinmann oder Steinberg? Auf den Unterricht dieses Lehrers freute ich mich ebenso wie auf den Unterricht des Deutsch-Lehrers Wolfgang Schieke. Er war selbst Schüler der Graf-Anton-Günther-Schule gewesen. Im Jahr 1954 hatte er das Abitur bestanden.

Wolfgang Schieke war ein Freigeist, der unter seinen Kollegen als „Nonkonformist“ anerkannt war. Als zwölfjähriger Schüler kannte ich den Begriff noch nicht. Aber ich spürte schon damals, dass Wolfgang Schieke ein Lehrer war, der kritisches Denken fördern wollte. Er starb Anfang 1997. Wolfgang Schieke wurde nur 63 Jahre alt.

Exkurs III: Hotel Wieting am Damm

Ehemalige Hotel-Fassade

Wenn sich die Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule im kleinen Kreis vertraulich miteinander unterhalten wollten, taten sie das in der Regel nicht im Lehrerzimmer der Schule, sondern konspirativ im Hotel Wieting am Damm. Das Hotel Wieting liegt nur wenige Schritte von der Graf-Anton-Günther-Schule entfernt an der Straße, die zur damaligen Cäcilien-Hubbrücke führte. Hier fühlten sich die Gesprächspartner vor Mithörern sicher. Das erfuhr ich Jahrzehnte später von der Senior-Chefin des Hotels Wieting.

So oft ich meine alte Heimatstadt Oldenburg besuche und im Hotel Wieting übernachte, sehe ich die ehemaligen Lehrer der Graf-Anton-Günther-Schule (GAG) vor mir, wie sie in einer Ecke des Gastraums in ein Gespräch versunken sind.

Exkurs IV: Schüler Klaus „Pu“ Schröder

An dieser Stelle will ich einen ehemaligen Schüler würdigen, der die Graf-Anton-Günther-Schule (GAG) viele Jahre vor mir besucht und – im Gegensatz zu mir – erfolgreich abgeschlossen hat. Es handelt sich um den Oldenburger Anarcho-Syndikalisten und selbsternannten „Alltags-AnarchistenKlaus „Pu“ Schröder („Anarchie heißt nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft“). Nach dem Abitur hatte Klaus „Pu“ Schröder eine Zeitlang im Hamburger Hafen gearbeitet. Doch die längste Zeit seines Berufslebens war er als Tischler für Bücherregale und als Buchhändler bzw. Antiquar tätig gewesen. Klaus „Pu“ Schröder hat sich immer wieder für die Interessen der Schwächsten, insbesondere für die Rechte von Jugendlichen und Obdachlosen, eingesetzt. Das ist einer der Gründe, warum sein freundliches Gesicht in Oldenburg „stadtbekannt“ ist. Jedesmal, wenn ich mich in Oldenburg aufhalte und auf Klaus „Pu“ Schröder stoße, freue ich mich. Mit Klaus „Pu“ Schröder, dem „Alltagsanarchisten“, befindet man sich in guter Gesellschaft.

Arbeit & Leben im Hafen

Trotz der großartigen Lehrer, die an der Graf-Anton-Günther-Schule unterrichteten, war ich von der Schule gelangweilt. Nachdem ich zweimal hintereinander nicht versetzt worden war, musste ich die Schule im Sommer 1973 verlassen. Ich hatte nicht einmal den Hauptschulabschluss erreicht. Aber das war mir egal. In der Welt, in der ich leben wollte, kam es darauf nicht an. Das glaubte ich jedenfalls.

Es war die Welt der Seeleute, Binnenschiffer und Hafenarbeiter (früher: „Schauerleute“). Und die Welt der Menschen, deren Lebensverhältnisse nicht gut geordnet waren. Die meisten Hafenarbeiter, die bei MIDGARD bzw. RHENUS Umschlagarbeiten ausführten, waren Tagelöhner. Der Zeitlohn betrug 5,27 DM brutto pro Stunde bzw. 42,16 DM brutto pro Tag (bei acht Arbeitsstunden ohne Pausen). Davon wurden aufgrund der gesetzlichen Abzüge rund 30 DM netto ausgezahlt. Das war schon damals wenig. Mehr verdienen konnte man nur, wenn nicht nach Zeit, sondern nach Leistung (Akkord) entlohnt wurde.

In den ersten Tagen wurde ich im Papierlager eingesetzt, das sich in einer ehemaligen Scheune an der Güterstraße, Ecke Stau, befand. Daneben war der sogenannte „Kontakthof“ eines neu errichteten Bordells, das als „EROS-CENTER“ firmierte.

Im Papierlager lernte ich meinen Kollegen Peter Staschen kennen. Er war gelernter Tankwart. Wir hatten die Aufgabe, die Papierrollen in LKWs zu verladen. Das Lager unterstand Hans R., einem ehemaligen Knacki, mit dem ich mich anfangs nicht verstand. Das änderte sich, nachdem ich zu den Lagerhäusern an der Hafenstraße versetzt worden war. Hier legten Schiffe an, die Kunstdünger und Getreidemehl geladen hatten. Im Herbst und Winter legten auch Schiffe an, die mit Holz zu beladen waren. Das Holz stammte aus den Oldenburger Wäldern und war für Skandinavien bestimmt.

Beim Verladen der Baumstämme war auf die Stabilität zu achten, um das Schiff nicht zu gefährden. Bei schlechter Ladequalität war die Gefahr groß, dass das Schiff kentern oder die Fracht verlieren würde. Jeder Baumstamm wurde von jeweils zwei Männern mit Hilfe kleiner Spitzhacken in die richtige Position gezogen. Die Spitzhacke musste kräftig eingeschlagen werden, damit sie nicht aus dem Holz herausrutschte. Wenn das dennoch passierte, konnte man beim Ziehen des Baumstammes leicht über Bord gehen.

Ladung löschen im Akkord

Im Akkordlohn konnte man das Dreifache des normalen Stundenlohns verdienen. Deshalb freute ich mich, als ich eines Tages einer der fünfköpfigen Akkordkolonnen („Gang“) zugewiesen wurde. Einer der fünf Männer war nicht erschienen. An diesem Tag war die Ladung eines Binnenschiffes, das 200 t Kunstdünger („Thomasmehl“) geladen hatte, in Güterwaggons umzuladen. Die 200 t setzten sich aus 4.000 Papiersäcken á 50 kg zusammen. Aufgrund meines Alters hätte ich noch nicht in der Akkordkolonne arbeiten dürfen, aber das spielte jetzt keine Rolle.

Von den fünf Männern, die zusammen eine Akkordkolonne bzw. „Gang“ bildeten, arbeiteten zwei Männer im Schiff, zwei auf der Rampe am Waggon und einer, der die Karre fuhr, im Waggon. Im Frachtraum des Schiffes bewegte jeder der beiden Männer allein 2.000 Säcke pro Tag. Sie packten jeweils drei Stapel zu 8, 9 und 8 Säcken (zusammen 25 Säcke) auf eine Plane zu einem „Hiev“, der vom Kran auf die Rampe des Waggons befördert wurde. Die beiden Männer auf der Rampe luden jeden der 4.000 Säcke zu zweit auf die Sackkarre, die der fünfte Mann fahren und abkippen musste. Das war schwieriger als es aussah, denn die Sackkarre musste mit Geschick abgekippt werden, damit alle 20 „Hievs“ mit insgesamt 500 Zentner-Säcken (insgesamt also 25 t) im Waggon Platz fanden.

Thomasmehl war zu je 50 kg, Getreidemehl sogar zu je 60 kg in Papiersäcke verpackt. Unangenehm waren die Säcke, die Harnstoff-Kristalle enthielten. Sie wogen 60 kg, waren aber schwerer zu greifen, da es sich um Plastiksäcke handelte, die leicht aus der Hand rutschten. Da die Hände mit den Harnkristallen in Kontakt, brannte es auf der Haut. Handschuhe waren keine Lösung, weil man die Plastiksäcke dann erst recht nicht hätte greifen können.

Mein Platz in der „Gang“

Mein Platz in der Akkordkolonne bzw. „Gang“ war auf der „Rampe“. Gemeinsam mit einem Kollegen packte ich die Säcke, die der Kran auf der Rampe abgeladen hatte, auf die Sackkarre, die von dem fünften Mann gefahren wurde. Am ersten Tag machte ich nach dem dritten Waggon (und insgesamt 1.500 Säcken) „schlapp“. Der Vorarbeiter reichte mir daraufhin eine Zigarette: eine »Reval« ohne Filter. Das empfand ich als Ritterschlag. Ich durfte bleiben.

Kurz danach wurde ich von den Kollegen „getauft“. Die Kollegen packten mich an Händen und Füßen und warfen mich mit Schwung ins Hafenbecken. Erst jetzt gehörte ich wirklich „dazu“ – obwohl ich für die „Gang“ bzw. Akkordkolonne nur der „Ersatzmann“ war.

Schlafen im Lagerschuppen

Der Akkordlohn war schwer verdientes Geld. Umso unbegreiflicher war es, wie einige Hafenarbeiter mit dem Geld umgingen. Manche von ihnen waren schon am nächsten Morgen „blank“. Wer nachts den Weg nicht nach Hause fand oder wegen Mietschulden vorübergehend kein Zuhause (oft nur ein möbliertes Zimmer) hatte, suchte sich seinen Schlafplatz in dem Lagerschuppen, der uns als Aufenthaltsraum zur Verfügung stand. Pappen dienten als Matratze. Eine Zeitlang gehörte auch ich zu den Schlafgästen – wenn auch aus anderen Gründen.

Die begehrtesten Schlafplätze befanden sich im hinteren, unbeleuchteten Teil des Schuppens. Im Raum davor lagen diejenigen, die weniger privilegiert waren und deshalb hinnehmen mussten, von den „Spätheimkehrern“ gestört zu werden. Dort war mein Schlafplatz, direkt neben der Tür. Im Sommer 1974 wurde es derart unerträglich, dass an durchgehenden Schlaf nächtelang nicht zu denken war. Irgendwann zog ich aus und schlief für kurze Zeit woanders.

Waschen & Kochen mit Hannes R.

In dem Lagerschuppen sah Hannes (Johannes Retzkowski, verstorben) nach dem Rechten. Er war bereits Rentner und verdiente sich mit Hilfsarbeiten ein Zubrot. Hannes war eine Seele von Mensch und kümmerte sich rührend um die Arbeitskollegen. Er war für uns wie ein „Kalfaktor“. Ich erinnere mich, dass er in einer Batterie von Eimern tagelang Schmutzwäsche einweichte. Das Waschergebnis war verblüffend gut. Hin und wieder kochte Hannes auch für uns. Er verfügte über Wohnräume im Helmsweg und später in der Johannisstraße. Die Häuser und die darin befindlichen Räume waren baufällig. Hannes ließ fast jeden in seinen Räumen schlafen, der in Not war.

Am Neujahrsmorgen 1974 servierte uns Hannes eine Suppe, die er aus Hasenpfoten gekocht hatte. Wir hatten die Nacht im hinteren Teil des Papierlagers zugebracht. Allen Kollegen war das Geld ausgegangen, weil aufgrund des Winterwetters keine Schiffe im Hafen lagen. Hannes hatte eine Flasche Schnaps aufgetrieben und sie während des Kochens geleert. Im Topf war alles gelandet, was Hannes unter die Hände gekommen war. Sogar ein Fetzen Stoff schwamm darin. Einer der Männer hatte den Fetzen plötzlich im Mund. Das minderte aber nicht unseren Appetit. Ich war inzwischen 17 Jahre alt.

Badeanstalt an der Huntestraße

Roland Wehl
Alte Städtische Badeanstalt

Den Arbeitern standen im Hafen nur Waschbecken zur Verfügung. Wer sich nicht zu Hause baden oder duschen konnte, suchte am Samstag die alte Städtische Badeanstalt an der Huntestraße auf. Dort gab es Kabinen mit Badewannen. Damals verfügten noch längst nicht alle Wohnungen in Oldenburg über ein Badezimmer. Die Badeanstalt verfügte auch über ein kleines Hallenbad. Darin hatte ich als Kind Schwimmen gelernt. In der Zeit, in der ich die Graf-Anton-Günther-Schule besuchte, fand hier im Winter der Sport- bzw. Schwimmunterricht statt.

Wie schnell man sich an Dreck und Gestank gewöhnen kann, erfuhr ich bei meinem kurzzeitigen Einsatz in einem anderen Umschlagbetrieb, der weiter östlich gelegen war. Dorthin war ich gewechselt, als es bei MIDGARD-RHENUS für Tagelöhner nichts tun gab. In dem neuen Betrieb hatte ich die Aufgabe, Papiersäcke mit Fischmehl zu füllen. Die Papiersäcke band ich an einen Trichter, aus dem das Fischmehl herauslief. Es ging viel Fischmehl „daneben“, so dass ich kniehoch in der stinkenden Masse stand. An einem Abend, an dem ich mit einer Freundin verabredet war, sprühte ich mich vorher kräftig mit einem Deodorant ein. Ich wollte den Geruch des Fischmehls überdecken. Aber das war ein Fehler. Die Kombination von Fischmehl und Parfüm hatte den Gestank für „normale Nasen“ ins Unerträgliche gesteigert. Aber das empfand ich nicht so. Ich selbst hatte mich längst an den Gestank gewöhnt.

Meine Kollegen im Hafen

Meine Kollegen waren deutlich älter als ich: Peter Staschen, der immer einen Witz auf der Zunge hatte, August Hechler, der ebenso wie ich für Hans Albers schwärmte, Hans R., der zeitweise das Papierlager leitete, Klaus Schumann, der aus der DDR geflohen war, der zahnlose „Fuzzi“, mein Mitbewohner Rolf O., der später wegen Mordes verurteilt wurde, sowie Erich Salatzkat, Ronny, Willi, die vier Oltmann-Brüder und viele andere, deren Namen ich vergessen habe.

Die Oltmann-Brüder waren „Arbeitsmaschinen“. Einige von ihnen wohnten in Wardenburg, andere in einem der Dörfer, die auf „-fehn“ enden (Merkmal für Siedlungen im Moor, die einst entwässert werden mussten). Die Oltmann-Brüder erschienen im Hafen nur an Tagen, an denen Schiffe im Akkord zu entladen waren. Der Stundenlohn kam für sie nicht in Frage. Da gingen sie lieber ins Moor, um Torf zu stechen.

Unterschiedliche Schicksale

Die älteren, altgedienten Kollegen bei MIDGARD-RHENUS waren „Wochenlöhner“. Für sie war jeden Freitag Zahltag. Einer von ihnen war Erich Salatzkat. Er wohnte mit seiner Familie im ersten Stock eines Geschäftshauses am Markt 2, gegenüber dem Rathaus. Manchmal lud er mich zu sich nach Hause zum Abendbrot ein. Ich erinnere mich an seine Ehefrau, an mehrere Kinder und an einen Schwiegersohn, der später aufgrund eines Arbeitsunfalls eine Entschädigung erhielt, die zum Erwerb eines Hauses genutzt wurde. Ein anderer Wochenlöhner, an den ich mich lebhaft erinnere, war Karl, der Verwalter des „Giftlagers“, das sich im Kellergewölbe eines Lagerhauses befand. Er wohnte im „roten“ Osternburg und war nach eigenen Angaben Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).

Die meisten Hafenarbeiter am Stau waren anständige Männer bzw. Familienväter. Der Hafen zog aber auch Menschen an, deren Leben keinen geraden Verlauf genommen hatte. Dazu gehören die folgenden drei Personen, die ich etwas näher beschreiben will. Sie alle sind nach meiner Kenntnis längst verstorben.

Kollege Hans R.

Hans R. (verstorben) war Anfang 1973 Chef des Papierlagers. Er war von Beruf Bergmann und zu der Zeit, als ich ihm unterstand, 29 Jahre alt. Aufgrund eines Verkehrsunfalls mit Todesfolge, den er schuldhaft verursacht hatte, war er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nachdem er die Strafe verbüßt hatte, kehrte Hans R. nicht in den erlernten Beruf als Bergmann zurück. Stattdessen reiste er mit einer Oldenburger Schaustellerfamilie, bei der er lebte, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt. Im Jahr 1972 wechselte Hans R. als Tagelöhner zu MIDGARD-RHENUS. Schon bald stieg Hans R. in der betrieblichen Hierarchie auf. Nachdem er Wochenlöhner geworden war, wurde ihm die Leitung des Seifenlagers und später auch die Leitung des Papierlagers anvertraut.

Hans R. (links) und ich 1977 in Oldenburg

Hans R. war pflichtbewusst und erledigte die Arbeit zur Zufriedenheit der Vorgesetzten. Er wollte sich eine „bürgerliche Existenz“ aufbauen. Im Herbst 1973 verlobte sich Hans R. mit Heike N. aus Rastede. Doch die Beziehung ging nach wenigen Monaten in die Brüche. Und der Arbeitgeber entband ihn plötzlich von der Funktion als Lagerverwalter. Lag das daran, dass sich das Verhalten von Hans R. nach der „Entlobung“ geändert hatte? Oder daran, dass der Arbeitgeber erst jetzt von seiner Vorstrafe erfahren hatte? Der Traum von der „bürgerlichen Existenz“ war jedenfalls erst einmal geplatzt. Hans R. wurde „rückfällig“ und verübte Einbrüche. Er brach auch bei seinem Arbeitgeber, der Firma RHENUS, ein. Das führte die Polizei auf seine Spur.

Hans R. wurde aufgrund der Einbrüche zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er in der JVA Hannover verbüßte. Nach einigen Monaten bestand für ihn erstmals die Möglichkeit eines eintägigen Hafturlaubs. Dafür benötigte er eine von der JVA anerkannte „Bezugsperson“. Hans R. bat mich, dafür zur Verfügung zu stehen. Ich willigte ein. Per Anhalter fuhr ich nach Hannover, um Hans R. in Empfang zu nehmen. Ich hatte mich verpflichtet, den Gefangenen abzuholen, zu begleiten und zurückzubringen.

Hans R. absolvierte im Gefängnis eine Ausbildung zum Schlosser. Weihnachten schenkte er mir einen riesigen Kerzenständer, der von ihm geschmiedet worden war. Im neuen Jahr erhielt Hans R. sogar für mehrere Tage Urlaub, die er bei mir in Oldenburg verbrachte. Er durfte allein per Bahn nach Oldenburg kommen. Hans R. beendete seine Ausbildung zum Schlosser mit gutem Ergebnis und wurde 1977 aus der Haft entlassen.

Kollege Rolf O.

Auch Rolf O. (verstorben) arbeitete bei MIDGARD-RHENUS im Hafen. Er war von Beruf Maurer und 16 Jahre älter als ich. Ich lernte Rolf O. kennen, kurz bevor meine Ausbildung in der Eduard Beyer Glasformenfabrik begann. Rolf O. war verheiratet gewesen und war Vater von zwei Kindern. Die Frau hatte sich von ihm getrennt. Nachdem ich 18 Jahre alt geworden war, zogen Rolf O. und ich gemeinsam in eine Wohnung in der Schulstraße 9 im Stadtteil Osternburg. Die Wohnung lag im Erdgeschoss. Ohne Badezimmer bzw. Dusche. Waschen konnte man sich nur in der Küche.

Rolf O. auf dem Kramermarkt 1974

Den Mitbewohner Rolf O. erlebte ich von einer Seite, die ich während der Arbeit nicht bemerkt hatte. Rolf O. verhielt sich in der Wohnung ordentlich, trank aber mehr, als ihm guttat. Er erzählte mir regelmäßig dieselbe Geschichte von seiner früheren Ehefrau und seinen Kindern. Es war erkennbar, dass ihn die Trennung schmerzte. Später erfuhr ich, dass er nie Unterhalt für die Familie gezahlt hatte.

Unsere Wohngemeinschaft endete, nachdem Rolf O. mir einen Bankscheck gestohlen, meine Unterschrift gefälscht und mein Konto geleert hatte. Daraufhin schloss ich Rolf O. aus der Wohnung aus. An einem der folgenden Tage sah mein Vermieter, dass Rolf O. nach Einbruch der Dunkelheit vor dem Küchenfenster stand und mich beobachtete. In der Nacht wachte ich auf, weil ich Geräusche gehört hatte. Rolf O. hatte versucht, das Fenster zu dem Zimmer, das er bewohnt hatte, aufzubrechen. Da er betrunken war, geschah das nicht leise. Ich konnte Rolf O. vertreiben. Zwei Monate später zog ich aus.

Woanders hatte Rolf O. mehr Erfolg. Anfang 1977 berichtete die Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ), dass Rolf O. gestanden hatte, einen Rentner erst mit den Händen gewürgt, danach mit dem Gürtel erdrosselt und anschließend ausgeraubt zu haben. Ihm wurden auch zahlreiche Einbrüche nachgewiesen. Er kam in Oldenburg in Untersuchungshaft.

Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ) vom 11.02.1977

Als ich einige Wochen nach seiner Inhaftierung im Oldenburger Gefängnis einen anderen Gefangenen besuchen wollte, begegnete ich Rolf O. zum letzten Mal. Während ich im Besucherraum wartete, spazierte Rolf O. mit einem Besen herein. Wir waren allein. Ich war angespannt und sagte kein Wort, denn ich rechnete jeden Moment mit einem Angriff. Doch Rolf O. fegte nur den Fußboden. Er schwieg ebenfalls.

Rolf O. wurde Ende 1977 verurteilt. Das Gericht sprach von „kaltblütigem“ Mord, verurteilte ihn jedoch nicht zu lebenslangem, sondern zu 15-jährigem Freiheitsentzug. Man ging davon aus, dass Rolf O. zur Tatzeit unter Alkoholeinfluss gestanden hatte. Rolf O. war in nüchternem Zustand ein braver Kerl gewesen. War er aufgrund seiner privaten Probleme und der Trinkerei erst zum Dieb und Betrüger, dann zum Einbrecher und schließlich zum Mörder geworden?

Kollege Klaus S.

Klaus S. (verstorben) war ein ehemaliger DDR-Boxer. Er war mit Rita (ebenfalls verstorben) verheiratet. Rita war als Prostituierte tätig, wurde am Stau aber verächtlich als „alte Fregatte“ bezeichnet, obwohl sie erst Mitte 40 war. Sie sah verlebt aus. Doch auch Rita hatte ihr Herz oft am rechten Fleck.

Oldenburger Nordwest-Zeitung (NWZ) vom 11.05.1973

Klaus S. war im Mai 1973 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der Versuch, ihn Anfang 1972 zu verhaften, soll unter den damaligen Kollegen am Hafen Heiterkeit ausgelöst haben. So wurde es mir erzählt. An einem Tag, an dem Thomasmehl entladen wurde, seien zwei Polizisten erschienen, um Klaus S. zu verhaften. Einen Arbeiter, der gerade aus dem Frachtraum des Schiffes gestiegen sei, hätten sie gefragt, wo sie Klaus S. finden könnten. Das Gesicht des Arbeiters sei durch das Thomasmehl so geschwärzt gewesen, dass die Polizisten die Person nicht erkannt hätten. Es sei Klaus S. selbst gewesen. Er hätte die Polizisten zu den hinteren Lagerhäusern geschickt. Während die Polizisten in die angegebene Richtung gelaufen seien, habe sich Klaus S. in der entgegengesetzten Richtung aus dem Staub gemacht. Erst Wochen später sei er gefasst worden.

Bei der Urteilsverkündung blieb ihm die zunächst angedrohte Sicherheitsverwahrung erspart. Kein „Aus für Klaus“. Im Gegenteil: Klaus S. wurde bereits Ende 1974 wieder aus dem Gefängnis entlassen. Doch mit der Freiheit kam er nicht zurecht. Er prügelte sich erneut durch das Rotlicht-Milieu und vergriff sich auch an Frauen, die dort tätig waren. Im Jahr 1976 fuhr Klaus S. erneut „ein“. Diesmal für sehr lange Zeit.

Dina N. und die Sucht

Der „Schläger“ Klaus S. besaß auch eine andere, eine fürsorgliche Seite. Anfang 1975 fragte er mich, ob ich einer Frau, die eine kaufmännische Ausbildung machte, helfen könne. Die Frau hieß Dina N. und war 31 Jahre alt. Als ich sie das erste Mal besuchte, sollte es um Buchungssätze gehen. Ich stand am Anfang meiner Ausbildung (siehe Kapitel „Kaufmann statt Seemann“) und wusste selbst noch nicht allzu viel. Aber das spielte keine Rolle. Dina N. hatte ein noch viel größeres Problem. Sie war alkoholkrank.

Dina N. war verheiratet gewesen, doch die Ehe war nach einem Jahr zerbrochen. War das eine Folge der Alkoholsucht gewesen, oder war die Sucht eine Folge der Trennung? Die Hilfe, die Dina N. benötigt hätte, fand sie bei mir nicht. Als sie eines Tages nicht die Tür öffnete, rief ich die Polizei. Dina N. hatte ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt.

Der Vorarbeiter

Der Vorarbeiter bei MIDGARD-RHENUS, Heinz Schönnagel (verstorben), war nicht nur mein Vorgesetzter, sondern auch ein „väterlicher Freund“. Seine Autorität wurde von allen Arbeitskollegen anerkannt, denn sie wussten, dass sie sich auf ihn verlassen konnten. Er hatte sich immer wieder für ihre Interessen eingesetzt. Allerdings wurde ihm das nicht immer ausreichend gedankt. Mir erschien er wie eine Mischung aus John Wayne und Gary Cooper („12 Uhr Mittags“).

Heinz Schönnagel hielt oft seine Hand schützend über mich – trotz genügend eigener Sorgen: Nachdem sein einziges Kind tödlich verunglückt war, verlor er durch eine Krankheit auch früh seine Ehefrau. Er verbrachte die letzten Arbeitsjahre an der Lkw-Waage des Oldenburger Hafenbetriebs „RHEIN-UMSCHLAG“ und starb viel zu früh. Er war ein ungewöhnlicher Vorgesetzter – und ein guter Kamerad. Einmal überschritt sein Wohlwollen sogar die Grenze des Erlaubten. Es war zu Beginn meiner Berufsausbildung im September 1974.

Wenige Tage nach Beginn der Ausbildung hielt ich mich erstmals wieder am Hafen auf. Als Heinz Schönnagel, der Vorarbeiter, mich sah, verpasste er mir einen „Anschiss“: Wo ich gesteckt hätte, und warum ich meinen Lohn nicht abholen würde? Die Leute im Kontor würden sich schon wundern. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Heinz Schönnagel hatte mich eine Woche lang morgens als „Tagelöhner“ gemeldet, obwohl ich nicht anwesend gewesen war. „Ab ins Kontor“, befahl er zum Schluss mit donnernder Stimme. Dort wurde mir der Lohn, den ich nicht verdient hatte, tatsächlich ausgezahlt. Wohl fühlte ich mich dabei nicht. Warum hatte Heinz Schönnagel das getan? Ich habe ihn nie gefragt.

Kaufmann statt Seemann

Lange Zeit hatte ich mir gewünscht, zur See zu fahren. Im Sommer 1973 suchte ich die Heuerstelle Brake auf, um mir ein Seefahrtsbuch („Seeleute-Ausweis“) ausstellen zu lassen. Ich hätte als Deckshelfer auf einem Frachtschiff anmustern können. Doch daraus wurde nichts. Mir fehlte die elterliche Zustimmung, da ich mit 16 Jahren noch nicht volljährig war. Ein Jahr später begrub ich den Berufswunsch. Jetzt wollte ich Journalist werden.

Ein Zeitungsredakteur hatte mir den Floh ins Ohr gesetzt. Er sah nicht den Seemann, sondern einen Journalisten in mir. Wie er darauf kam, ist eine andere Geschichte. Bei der „Nordwest-Zeitung“ (NWZ) bewarb ich mich für ein Volontariat. Doch der Chefredakteur der Zeitung, Bodo Schulte, hielt mich für zu jung (Bild). Er gab mir den Rat, zunächst eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Das tat ich.

Die kaufmännische Ausbildung erhielt ich in der Eduard Beyer Glasformenfabrik. Der Firmeninhaber, Frank Backmann, war ein ungewöhnlicher Chef, mit dem man über Gott und die Welt sprechen konnte. Er sah darüber hinweg, dass ich keinen Schulabschluss besaß. An ihn und an den Berufsschullehrer Hermann de Millas denke ich gerne zurück. Hermann de Millas war ein „Menschenfänger“.

Mit der kaufmännischen Ausbildung waren die Weichen für mich gestellt. Ich wurde Kaufmann – und bin es geblieben. Doch meine Sehnsucht nach allem, was mit der Seefahrt zu tun hat, blieb bestehen. Auch als Lehrling hielt ich mich regelmäßig am Oldenburger Hafen und in dessen Umfeld auf. Hier traf ich die Kollegen von „MIDGARD-RHENUS“ und andere Personen, mit denen ich inzwischen vertraut war. Und wenn ausnahmsweise an einem Samstag ein Schiff zu entladen und Not am Mann war, half ich weiterhin als „Ersatzmann“ aus.

Verdiente Niederlage

Von dem Milieu rund um den Hafen und von den „Anstandsregeln“, die dort herrschten, war ich beeindruckt. Im Jahr 1973 trat ich dem Boxverein bei, in dem jemand trainierte, den ich im „HOLSTEN-ECK“ kennengelernt hatte. Mein erster Kampf fand im Saal eines Gasthofs im Ort Kirchlengern, etwa 100 km von Oldenburg entfernt, statt. Es handelte sich um einen Schaukampf zur Unterhaltung des Publikums. Schwaden von Tabakrauch hingen in der Luft. Mein ursprünglich vorgesehener Gegner war erkrankt. Deshalb trat ich gegen einen Ersatzmann an, der mir nicht nur an kämpferischer Erfahrung überlegen war, sondern auch deutlich älter war und mehr Kilogramm auf die Waage brachte. Das war gegen alle Regeln. Bereits in der ersten Runde wurde ich von ihm regelrecht verprügelt. Als ich zu Boden ging und das Bewusstsein verlor, warf mein Trainer das Handtuch. Es war eine verdiente Niederlage. So hatte ich mir meinen ersten Kampf nicht vorgestellt.

„HOLSTEN-ECK“ im „Kaiserhaus“

Das Lokal, das ich seit meiner ersten Tätigkeit im Hafen Anfang 1973 regelmäßig besuchte, war das „HOLSTEN-ECK“ im „Kaiserhaus“ am Stau, Ecke Kaiserstraße. Die Gaststätte gehörte Franz Scharmann und seinem Sohn Kurt Scharmann (beide verstorben). Die beiden sorgten dafür, dass alles mit rechten Dingen zuging. Es herrschte eine familiäre Atmosphäre, weil sich die meisten Gäste kannten. Das „HOLSTEN-ECK“ lebte von den Stammgästen. Durch einen Autounfall verlor Franz Scharmann 1975 einen Teil seiner körperlichen und sprachlichen Fähigkeiten. Das hatte auch Folgen für das Lokal. Nach drei Jahren gaben Franz und Kurt Scharmann das „HOLSTEN-ECK“ auf. Damit ging dem Gebiet rund um den Hafen eine „Institution“ verloren.

„GOLDENER ANKER“ am Stau

Im „HOLSTEN-ECK“ verkehrten auch die Männer, deren Frauen am Stau „anschafften“.

Während die Frauen ihrem Gewerbe nachgingen, vertrieben sich deren Männer die Zeit auf andere Weise. An Jürgen L., Gert O., Klaus T. und deren Frauen erinnere ich mich gut. Sie gingen sehr respektvoll miteinander um. Man konnte sogar den Eindruck gewinnen, als hätten die Frauen die Hosen an. Gert O. fiel mir besonders auf. Er war gelernter Kellner und eine vornehme Erscheinung. Gert O. war mit Ilse verheiratet. Im Jahr 1977 gab Ilse ihr Gewerbe auf. Das Ehepaar zog nach Wilhelmshaven und übernahm ein Lokal.

Ilse O. und andere Frauen hatten im „GOLDENEN ANKER“ Zimmer gemietet, um ihr Gewerbe „stationär“ auszuüben. Der „GOLDENE ANKER“ war eine einfache Hafenkneipe gewesen und durch die Zimmer-Vermietung zum Bordell geworden. Es gab nur zwölf Zimmer. Die meisten Frauen, die auf den Strich gingen, übten ihre Tätigkeit in den Autos der Freier oder auf dem offen zugänglichen Hafengelände aus. Die Frauen im EROS-CENTER an der Güterstraße waren eine eigene Liga.

Heidi T. und ihr Zuhälter

Die Männer im „HOLSTEN-ECK“, deren Frauen am Stau „anschafften“, waren keine typischen Vertreter des sogenannten „Milieus“. Zwischen ihnen und dem Hamburger Zuhälter, der Ende August 1974 mit einem Begleiter nach Oldenburg kam und für Ärger sorgte, lagen Welten. Der Hamburger Zuhälter suchte eine Frau, die für ihn auf den Strich gegangen, dann aber vor ihm geflohen war. Sie hieß Heidi T., war 24 Jahre alt und arbeitete jetzt im „HOLSTEN-ECK“. Franz Scharmann, der Wirt, hatte ihr in der Wohnung, die über dem Lokal lag, ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Anfang Juli 1974 bezog Heidi T. eine Wohnung in der Grünen Straße. Als ich wenig später mit ihr gemeinsam den Schnellimbiss „Wurst-Maxe“ aufsuchte, erwartete uns eine Überraschung: Der Zuhälter und dessen Begleiter standen in einer Ecke der Imbisshalle. Heidi ergriff die Flucht, und die beiden Männer nahmen die Verfolgung auf. Als ich mich ihren Verfolgern in den Weg stellte, fing ich mir eine „ein“. Die Sache ging gut aus.

Wiederbegegnung

Jürgen L. (verstorben) war einer der Männer, dessen Ehefrau am Stau „anschaffte“. Ich traf ihn 20 Jahre später in Berlin wieder, als ich mit dem Fahrrad die Otto-Suhr-Allee entlang fuhr. Wir staunten beide, als wir uns plötzlich gegenüber standen. Nach dem frühen Tod seiner Ehefrau hatte sich Jürgen L. aus dem „Milieu“ verabschiedet. Er war nach Berlin gezogen und hatte neu geheiratet. Jürgen Lüder starb im Jahr 2004. Er wurde 66 Jahre alt. Das Bild zeigt Jürgen L. kurz vor seinem Tod.

Umzug nach Berlin und Heirat

Mit Akkordeon, 1976

In den Jahren 1973 bis 1977 besuchte ich das „HOLSTEN-ECK“ jede Woche. Als ich eines Abends mein Akkordeon dabei hatte und auf Wunsch einiger Gäste das Lied „La Paloma“ anstimmte, stand hinter dem Tresen eine mir unbekannte Frau, die mich vergnügt ansah. Es war ihre erste Arbeitswoche. Kurz darauf wurden wir ein Paar. Ende 1977 zogen wir nach Berlin und heirateten.

Unsere Hochzeit feierten wir in der Wohnung von Greta und Henning Eichberg. Vielleicht waren wir noch zu jung. Nach nicht einmal zwei Jahren trennten wir uns.

Rückblick und Fazit

Seitdem ich aus Oldenburg weggezogen bin, hat sich die Gegend rund um den Stadthafen stark verändert. Den Umschlagbetrieb, in dem ich damals tätig war (MIDGARD-RHENUS) und die ehemaligen Speicher und Backstein-Gebäude gibt es seit den 1980er Jahren nicht mehr. Der Güterumschlag findet weiter östlich im neu ausgebauten Hafen statt. Der alte Stadthafen wird für andere Zwecke genutzt. Wo einst die Ladungen der Frachtschiffe „gelöscht“ wurden, liegen jetzt nur noch Segelboote und Yachten. Und in den ehemaligen Räumen des Hafenmeisters befindet sich ein Restaurant.

Ausgebauter Hafen im Ostteil der Stadt Oldenburg
Mit dem Abriss der alten Speicher verlor der Hafen einen Teil seiner Seele.

An die Menschen, denen ich in den Jahren 1973 bis 1977 im Oldenburger Hafen und dessen Umfeld begegnet bin, denke ich oft mit Wehmut zurück. Das gilt vor allem für Heinz Schönnagel, den ehemaligen Vorarbeiter bei MIDGARD-RHENUS.

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