Kein Platz auf Burg Ludwigstein

Am 7. November 2014 veröffentlichte die Wochenzeitung »Junge Freiheit« meinen Aufsatz („Kein Platz auf der Burg“) über die historische Jugendbewegung und die Auseinandersetzung auf Burg Ludwigstein um das Konzept der „offenen Burg“. Ein zweiter Aufsatz („Unreflektierter Traditionalismus“) sollte Anfang Dezember 2014 folgen. Doch dazu kam es nicht. Die Redaktion der »Jungen Freiheit« lehnte dessen Veröffentlichung ab – und beendete die Diskussion.

Einige Wochen später, am 3. Februar 2015, wurde der zweite Aufsatz („Unreflektierter Traditionalismus“) dennoch veröffentlicht – allerdings nicht in der »Jungen Freiheit«, sondern in dem Online-Magazin »GLOBKULT«. Das verdanke ich dem Herausgeber des Magazins, Prof. Dr. Peter Brandt, und seinen Kollegen. Den zweiten Aufsatz können Sie hier aufrufen.

Nachfolgend der erste der beiden Aufsätze. Er  erschien am 7. November 2014 in der  »Jungen Freiheit«:

KEIN PLATZ AUF DER BURG

Die „Jugendburg Ludwigstein“ ist das Zentrum der deutschen Jugendbewegung. Schon seit einigen Jahren hängt hier der Haussegen schief. Es geht um die Frage, wer auf der Burg willkommen ist – und wer nicht. Damit geht es auch um das Selbstverständnis der heutigen bündischen Gruppen. Die Gemüter sind erhitzt. Am 8. November 2014 soll auf der Burg der Streit fortgesetzt werden.

JF-Artikel Burg Ludwigstein

Die Burg liegt im Werra-Meißner-Kreis in Hessen. Anfang des 15. Jahrhunderts erbaut, war die Burg Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend verfallen. Dennoch fühlten sich viele Gruppen der Jugendbewegung zu diesem Ort, der in der Nähe des legendären „Hohen Meißners“ liegt, hingezogen. Sie nahmen die Burg seit Anfang des Jahrhunderts – unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg – immer stärker in Besitz.

1920 gründeten Mitglieder der Jugendbewegung die Vereinigung „Jugendburg Ludwigstein“, um die Ruine zu erwerben und die Burg wieder aufzubauen – als Gemeinschaftsleistung aller Bünde. Die Gründungsmitglieder hatten den Wunsch, eine Begegnungsstätte für die verschiedenen Bünde der Jugendbewegung zu schaffen.

Grundlage des gemeinsamen Verständnisses war die Erklärung des Freideutschen Jugendtages von 1913, auch bekannt als „Meißner-Formel“: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“

Die Faszination der Jugendbewegung

Die Jugendbewegung entstand um die Jahrhundertwende als Antwort junger Leute – überwiegend aus bürgerlichen Kreisen – auf ein überholtes autoritäres System. Ihre Mitglieder wollten raus aus der wilhelminischen Enge. Sie reisten in ferne Länder – und entdeckten auch die eigene Heimat neu. Sie suchten das Authentische, das „Echte“ – und meinten damit vor allem die „echte“ Freundschaft. Die Bünde der Jugendbewegung sollten „Lebensbünde“ sein.

Von der Jugendbewegung ging eine große Faszination aus. Sie war nicht homogen, sondern setzte sich bis 1933 aus den unterschiedlichsten Bünden zusammen. Es gab kommunistische, sozialistische, christliche, jüdische und viele andere Bünde. Neben der „völkischen“ gab es auch eine „volkliche“ Richtung. Am Ende setzte sich die „völkische“ und damit die rassistische Richtung durch

Antisemitische Tendenzen gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Der Österreichische Wandervogel erklärte 1913, also im Jahr der „Meißner-Formel“: „Darum haben wir (…) kundgetan, dass wir weder Slaven, noch Welsche, noch Juden in unseren Reihen sehen wollen, weil wir, umbrandet von Fremden und durchsetzt von Mischlingen, unsere rassische Reinheit bewahren müssen.“

Die dunklen Seiten der Jugendbewegung

Auf dieses Kapitel der Jugendbewegung hat kürzlich der Pädagoge, Psychologe und Nietzsche-Forscher Christian Niemeyer erneut aufmerksam gemacht. In seinem Buch „Die dunklen Seiten der Jugendbewegung“ setzt sich Christian Niemeyer mit der völkischen Seite der Jugendbewegung auseinander – und mit der beschönigenden Aufarbeitung nach 1945. Die Frage, warum die Suche nach dem Eigenen und der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben bei einem Teil der Jugendbewegung in der Ausgrenzung von Minderheiten geendet hatte, kann auch Christian Niemeyer nicht beantworten.

1945 hatten viele Ideale der Jugendbewegung bzw. der bündischen Jugend ihren Wert verloren. Bertolt Brecht stellte die berühmte Frage: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?“. Es gab Patrioten, die aus Scham keine Patrioten mehr sein wollten.

Mit dem Völkermord, der von Deutschen im Namen des deutschen Volkes verübt wurde, hat sich die „völkische“ Ideologie erledigt. Leider sind damit aber auch die „volklichen“ Strömungen in der früheren Jugendbewegung in Vergessenheit geraten. Zu denen, die mit „volklichen“ Ideen auch auf die Jugendbewegung eingewirkt hatten, gehörten u.a. der spätere NS-Widerstandskämpfer Adolf Reichwein und Eugen Rosenstock-Huessy, der spätere „geistige Vater“ des Kreisauer Kreises. Beide waren von dem dänischen Philosophen Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783 – 1872) beeinflusst, der den Begriff der „Volklichkeit“ geprägt hatte.

„Völkisch“ und „volklich“

Die von Reichwein und Rosenstock-Huessy in den 20er Jahren organisierten „Arbeitslager“ für Arbeiter und Studenten in Schlesien waren Teil eines antikapitalistischen Bildungsprogramms. Durch „Volksbildung“ sollte die „Volkbildung“ vertieft werden. Das war nicht – wie einzelne Kritiker heute behaupten – die „Light“-Version einer „völkischen“ Ideologie, sondern das Gegenteil. Der von Grundtvig verwendete Volksbegriff war nicht auf eine biologische „Herkunftsgemeinschaft“ beschränkt, sondern schloss die geistige „Überzeugungsgemeinschaft“ mit ein. Für richtige „Völkische“, die am liebsten Köpfe vermessen, eine grauenvolle Vorstellung.

Vielleicht ist der Streit auf der „Jugendburg“ Ludwigstein vor diesem Hintergrund etwas besser zu verstehen.

Das Konzept der  „Offenen Burg“

Die Leitung dieser bündischen Begegnungsstätte vertritt das Konzept einer „Offenen Burg“. Danach sollen alle Bünde, die sich zur Meißner-Formel und zu dem Wertekanon der Begegnungsstätte bekennen, auf der Burg willkommen sein. Zu denen, die dieses Bekenntnis abgelegt haben, gehört auch eine Handvoll kleiner Bünde, die von der Mehrheit der anderen Bünde als „völkisch“ bzw. „rechtsextrem“ angesehen werden. Diese kleinen Bünde verfügen zusammen über kaum mehr als 300 aktive Mitglieder und sollen – nach dem Willen der anderen Bünde – von der Burg ausgeschlossen werden. Doch die Leitung der Burg verteidigt diese Bünde gegen den Vorwurf des „Extremismus“.

Ist der Vorwurf der anderen Bünde also gar nicht berechtigt? Oder ist das Kriterium des „Extremismus“ viel zu schwach? Müsste es andere Kriterien geben?

Die Geschichte eines Bundes 

Einer der kritisierten Bünde ist der „Freibund“. Die Geschichte dieses Bundes zeigt beispielhaft, wie schwer es sein kann, einen als falsch erkannten Kurs zu verlassen. Anfang der 60er Jahre im rechtsextremen Milieu als „Bund Heimattreuer Jugend“ gegründet, nahm der Bund im Laufe der Zeit immer mehr Elemente der Jugendbewegung bzw. bündischen Jugend auf. 1990 kam es zur Spaltung und zur Umbenennung. Seitdem trägt der Bund den heutigen Namen.

Die Umbenennung war nicht ein „Etikettenwechsel“, sondern eine Zäsur. Damals ging ein Großteil der Mitglieder verloren. Auf der Suche nach neuen Leitbildern knüpfte man an die Tradition der bündischen Jugend vor 1933 an. Dadurch stieß man gleichzeitig auf den bündischen Widerstand – nach 1933. Es wurden Vorträge organisiert – z.B. über den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, über den Jungenschaftsführer Eberhard Koebel („tusk“) und über die „Weiße Rose“. Mitglieder des Freibundes reisten zu Überlebenden der Widerstandsgruppe und befragten sie als Zeitzeugen. Es schien, als ob der Freibund ein Beispiel für eine erfolgreiche demokratische Erneuerung sein könnte.

Doch mit der Spaltung waren die Auseinandersetzungen nicht beendet. Als später ein neues Liederbuch zusammengestellt wurde, übernahm man aus der alten Liedersammlung, die aus der Frühphase des Bundes stammte, ein „falsches“ Lied. Der Fehler wurde entdeckt, als das Liederbuch bereits gedruckt war.

In den darauffolgenden Jahren kam es im Freibund zu immer wieder neuen Austrittswellen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie sich das Selbstverständnis dieses Bundes durch die Zäsur 1990 verändert hatte. Einigen Mitgliedern gingen die Veränderungen zu weit. Anderen nicht weit genug.

„Freiburger Erklärung“ des Freibundes

In der „Freiburger Erklärung“ aus dem Jahr 2005 ist das Selbstverständnis des Freibundes formuliert. Es heißt u.a.: „… Die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Grundrechte stellt eine Grundlage unseres Handelns dar. Wir verurteilen die Herabsetzung, Verfolgung oder gar Tötung von Menschen auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit oder ihrer politischen und weltanschaulichen Einstellung. Wir bekennen uns zu den unveränderlichen Grundrechten des deutschen Grundgesetzes und fordern ihre konsequente Umsetzung …“ 

Der Freibund beruft sich in seiner „Freiburger Erklärung“ auf die „Meißner-Formel“. Doch wie ernst werden die „Freiburger Erklärung“ und die „Meißner-Formel“ von der Führung des Freibundes tatsächlich genommen? Zweifel sind angebracht – wenn man allein an das „Bundeslied“ des Freibundes denkt. Es ist merkwürdig, dass das Lied die Zäsur des Bundes überstanden hat.

Das Lied „Nur der Freiheit gehört unser Leben“

Es handelt sich um das Lied „Nur der Freiheit gehört unser Leben“. Text und Melodie stammen von Hans Baumann. Das Lied ist nicht nur im Liederbuch des Freibundes, sondern auch in rund 200 anderen Liederbüchern (für Schulen, Pfadfinder, Bundeswehr etc.) enthalten. Handelt es sich also um einen harmlosen, jugendbewegten Text? Der Eindruck täuscht. Hans Baumann hat das Lied 1935 verfasst – im Auftrag der damaligen „Reichsjugendführung“ der HJ. Es handelt sich um eine „Auftragsarbeit“. An wessen Freiheit mag Hans Baumann wohl gedacht haben, als er den Text schrieb? Sicherlich nicht an die Freiheit derjenigen, die unter dem NS-Regime verfolgt wurden.

Erwarten diejenigen, die das Lied heute singen, von denen, deren Vorfahren unter dem NS-Regime gequält und ermordet wurden, dass sie das Lied mitsingen? Wie kann es sein, dass ein solches Lied noch immer in vielen Liederbüchern – nicht nur der bündischen Jugend – zu finden ist? Die Geschichte des Liedes steht im Widerspruch zum Geist der Meißner-Formel und zu allem, wofür die bündische Jugend heute steht.

Das Selbstverständnis der bündischen Jugend

In dem Streit auf der Burg Ludwigstein – 25 Jahre nach dem Fall der Mauer – geht es nicht vorrangig um Lieder, sondern um Fragen eines gemeinsamen Geschichtsverständnisses – und um das Selbstverständnis der heutigen bündischen Jugend.

Die Leitung der Burg Ludwigstein sollte das Konzept der „Offenen Burg“ noch einmal gründlich überdenken – und von den Bünden mehr fordern als bisher.

© Roland Wehl aus: Junge Freiheit, 07.11.2014